Gewalt in der Pflege: Warum sich das Problem verschärft

Pflege Senioren Gewalt Pflegekräfte Deutschland Gewalt in der Pflege ist auch deshalb ein Problem, weil selten darüber gesprochen wird. Foto: Alexa/Pixabay

Gewalt gegen Bewohner von Pflegeheimen gehört laut Umfragen zum Alltag in vielen Häusern. Doch unter den Mitarbeitenden ist sie oft ein Tabu, vielerorts fehlen Konzepte. Dabei dürfte das Problem eher größer werden, wie Pflegekräfte und Branchenkenner berichten. 

Augsburg Wenn die Pflegelehrerin Manuela Maria Müller ihren Auszubildenden erklären will, was für verstörende Erfahrungen man in einem Pflegeheim machen kann, erzählt sie ihre persönliche Geschichte: Am Anfang ihres Berufslebens arbeitet sie auf einer Pflegestation in Augsburg. Sie hat den ersten Wochenenddienst mit zwei Kolleginnen, morgens um 6 Uhr wecken sie die Bewohner, damit alle pünktlich beim Frühstück sind. Einige wollen länger schlafen, Müller nimmt Rücksicht. „Die beiden anderen lästerten sofort: Was braucht die denn so lang?“, erinnert sich die 59-Jährige. Im nächsten Zimmer zieht sie einer Bewohnerin vorsichtig die Decke weg, es soll schneller gehen. Die alte Dame haut der jungen Pflegerin auf die Hände – im Affekt klatscht Müller zurück. Ein Moment, in dem sich ein Abgrund auftut: Wozu ist sie noch fähig, wenn Druck, Überforderung und Frust sie über ihre Grenzen bringen?  

„Das ist 40 Jahre her, aber die Szene verfolgt mich immer noch, weil ich so sehr über mich selbst entsetzt gewesen bin“, sagt Müller, die im Raum Augsburg-München arbeitet. Die Konsequenz: Müller kündigte, unter solchem Druck wollte sie nicht pflegen. Ähnliche Erfahrungen haben viele gemacht. Für diesen Text haben Pflegekräfte Einblicke in eine Branche gegeben, in der verschiedene Formen von Gewalt nicht die Ausnahme sind, sondern Alltag. Sie berichten von Vernachlässigung und Bewohnern, die stundenlang in ihren Windeln liegen gelassen werden. Von schlechter medizinischer Versorgung und offenen Liegegeschwüren, die ärztliche Behandlungen erzwingen. Sie berichten von Kolleginnen und Kollegen, die beschimpfen, ignorieren, demütigen.    

Gewalt in der Pflege: Studie legt Ausmaß offen

Der Sozialarbeiter und Pflege-Experte Claus Fussek beobachtet die Branche seit mehr als 40 Jahren und gilt als Deutschlands bekanntester Pflegekritiker. „Gewalt in der Pflege ist leider immer noch ein riesiges Tabu. In der Öffentlichkeit gehört es sich, dass die Pflegekräfte die Opfer sind – und nicht die Täter“, sagt er. „Weil wir diese Gruppe pauschal zu Heldinnen und Helden erklärt haben, trauen wir uns offensichtlich nicht mehr genau hinzuschauen und die tatsächlichen Probleme auch zu benennen.“

In einer Studie der Stiftung Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP) aus dem Jahr 2017 wurden 250 Pflegedienstleitungen und Qualitätsbeauftragte über Gewalt in der Pflege befragt. Knapp die Hälfte von ihnen gab an, dass Konflikte, Aggressionen und Gewalt in der Pflege die Pflegeheime vor ganz besondere Herausforderungen stellen. Für eine Erhebung der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster aus dem Jahr 2010 gaben 72 Prozent der Pflegekräfte aus Heimen an, in den vergangenen zwölf Monaten mindestens einmal ein Verhalten gezeigt zu haben, das als Vernachlässigung oder Misshandlung eingeschätzt wurde. Am häufigsten genannt wurden psychische Misshandlung und pflegerische Vernachlässigung. Meistens gaben die Befragten an, geschehe das im Verborgenen und dringe nicht in den breiten Kollegenkreis oder zu den Vorgesetzten durch.

Als sich die Heime in der Corona-Pandemie abschotteten, dürfte die ohnehin hohe Dunkelziffer an Gewalttaten nach oben geklettert sein. Die Pflegeschülerin Susanne F.* ist Mitte 20 und absolviert gerade ihre dreijährige generalistische Ausbildung. Ihren richtigen Namen will sie nicht in der Zeitung lesen, weil sie fürchtet, dass sich das negativ auf ihre Karriere auswirkt. Sie und ihre Mitschüler haben schon mehrere Stationen in Pflegeheimen gemacht – und schon viel gesehen, wie sie berichtet. Mal werden Bewohner angeschrien, dass sie nicht so oft klingeln sollen. Mal wird ein Zäpfchen ohne Vorwarnung im Intimbereich verabreicht. Mal hat eine Bewohnerin Zahnfleischbluten, weil die Zähne so rabiat geputzt wurden. Wer sich aber beschwert, erzählt die Pflegeschülerin, dem werde gedroht, dass der Krankenwagen ihn gleich abhole. „Ein großes Problem sind auch freiheitsentziehende Maßnahmen: Wenn Heimbewohner nachts auf dem Gang umherirren, wird schon mal der Teewagen vor der Tür deponiert, um sie aufs Zimmer zu sperren“, sagt die Pflegeschülerin. Ob die Azubis solche Gewalttaten der Leitung melden? „Da stehen wir schon in einem Konflikt, schließlich sind wir die Schüler und das ist nicht gerne gesehen. Ich glaube auch nicht, dass sich jemand der so seit 25 Jahren arbeitet, wirklich ändern wird.“ 

Torsten S., Jahrgang 1965 und aus der Nähe von Augsburg, arbeitet seit mehreren Jahrzehnten in der Branche und hatte auch Leitungspositionen inne. Der Druck habe ihn nah an die Tablettenabhängigkeit gebracht, sagt er. Die Überarbeitung hinterlasse Spuren, nicht nur bei ihm. „Wenn ich morgens in die Übergabe komme, und alle Kollegen sitzen im Kreis, kann ich nicht sagen, wer Nachtdienst hatte und wer jetzt zum Dienst antritt. Alle sehen gleich fertig aus“, sagt S. Beim Thema Gewalt muss er nicht lange nach Beispielen suchen, die er beobachtet: Heimbewohner, denen Kollegen die Nasen zu halten, um Medikamente zu verabreichen. Blaue Flecken auf den Körpern der Bewohner, die offensichtlich vom Nachtdienst kommen. Bewohner, die zu oft nachts klingeln und denen die Glocken weggenommen werden – was im Notfall fatal ist. „Ich glaube, dass viele Menschen in der Pflege arbeiten, die da eigentlich gar nicht hingehören, denen schlicht die Empathie fehlt“, sagt S. „Aber diese Kollegen lässt man einfach weiterlaufen. Denn wenn die Quote der Mitarbeiter nicht erfüllt werde, gebe es einen Belegungsstopp und es werden keine neuen Bewohner aufgenommen. Das will die Leitung natürlich verhindern.“ „Viele können sich in Stresssituationen einfach nicht mehr regulieren. Und dann passieren schreckliche Sachen.“

Pflege-Lehrerin sieht viele Gründe für Gewalt

Die Pflegelehrerin Manuela Maria Müller, der einst im Affekt die Hand ausrutschte, sieht den Kern des Gewaltproblems unter anderem bei der Auswahl der Auszubildenden. Trotz des Personalmangels müssten die Pflege-Schülerinnen und -Schüler viel sorgsamer ausgewählt werden. Wer sich wirklich eignet und wer nicht, habe nicht immer mit der Schulbildung zu tun. „Es nützt nichts, wenn Auszubildende oder gut ausgebildetete Pflegekräfte aus dem Ausland geholt werden, sie die Sprache nicht oder nicht richtig können“, sagt Müller. Außerdem gebe es immer wieder deutsche Schüler, die in der Pflege landeten, weil sie keine Alternativen wüssten. Instabile Persönlichkeiten und gleichzeitig totale Überforderung führen zu einer explosiven Mischung: „In den Heimen begegnen den Auszubildenden dann auch noch schlechten, ausgebrannten Vorbildern und alten Menschen, die die alten Menschen einfach nur abfertigen.“ Und: Auch eigentlichen ungeeignete Schüler und Pflegekräfte würden in der Probezeit nicht entlassen, sondern im Job bleiben. „Da verschließen die Verantwortlichen oft die Augen.“ Auszubildende erzählten, sagt Müller, dass so manches unter den Tisch gekehrt werde. Und es gebe selten Ansprechpartner, die sich dem Problem verantwortlich annehmen. 

Genau hier, bei der Frage nach der Verantwortung, sehen auch die Fachleute des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) einen Ansatzpunkt, um Gewalt in Heimen einzudämmen. Simon Eggert, Geschäftsleiter Forschung des ZQP, hält die Prävention von Gewalt für eine dauernde Aufgabe. „Es bestehen in Pflegeheimen immer Risiken für Gewalthandlungen und Vernachlässigung. Daher sollte in Einrichtungen eine gelebte Gewaltschutzkultur etabliert sein“, so Eggert. In der Praxis sei das Thema aber bisher nur bedingt angekommen. Das zeigt eine bundesweite Befragung des ZQP: In etwa der Hälfte der Häuser gab es demnach kein Personal, das für den Umgang mit Konflikten, Aggression und Gewalt speziell geschult ist. In etwa einem Fünftel der Einrichtungen wurde das Thema im Qualitätsmanagement nicht aufgegriffen. Eggert weist auch vor diesem Hintergrund darauf hin, dass ein Gewaltschutzkonzept samt Präventionsbeauftragtem vor Ort sehr wichtig, aber leider nicht üblich sei.

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Ähnliche Erfahrungen hat Andreas Haupt gemacht. Er hat mehr als 20 Jahre eine stationäre Pflegeeinrichtung in Bad Friedrichshall im Landkreis Heilbronn geleitet und wählt, wenn er über Gewalt in der Pflege spricht, einen drastischen Vergleich: Beim berühmten Stanford-Gefängnis-Experiment teilten Forscher eine Gruppe von Testpersonen in Wärter und Gefangene. „Das Ergebnis war bekanntermaßen, dass Menschen in bestimmten Situationen ihre Macht hemmungslos ausüben, bis hin zur Gewalt“, sagt Haupt. Im Kern sei die eskalierende Lage aus dem Experiment mit der in vielen Pflegeheimen vergleichbar. „Weil der Druck schon enorm ist und noch immer größer wird, kommt es leider immer wieder zu Gewaltanwendungen“, sagt der ehemalige Einrichtungsleiter. 

Auch unter seiner Leitung hätten sich Bewohner beschwert, dass sie von Pflegekräften ruppig behandelt wurden. „Für mich in meiner Position war das natürlich ein beschämendes Gefühl.“ Doch ließ sich das Problem angesichts von Personalmangel und wirtschaftlichem Druck nicht einfach beseitigen. „Es sind nicht die Menschen schuld, die in dem System arbeiten. Meiner Erfahrung nach sind vor allem der Zeitdruck und die Überforderung der Nährboden für Gewalt“, sagt Haupt. 

Der langjährige Pflege-Experte Claus Fussek sagt, es brauche „Entlastung, Entlastung, Entlastung“, denn viele bescheidene Wünsche von Heimbewohnern ließen sich auch schon mit Empathie und mit genügend Zeit erfüllen. „In vorbildlichen Pflegeheimen, die es ja zum Glück auch gibt, ist ein angstfreies Arbeitsklima möglich und es gibt ein Frühwarnsystem, wo über Probleme und Beschwerden offen und ehrlich mit Angehörigen umgegangen wird.“ Würdevolle Pflege, betont Fussek, sollten wir uns als Gesellschaft etwas kosten lassen. Denn der Artikel 1 des Grundgesetzes, die Würde des Menschen, darf keine Altersbeschränkung nach oben haben. 

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