Immer mehr Menschen leiden in Deutschland unter Einsamkeit. Die Bundesregierung will die Volkskrankheit mit einer „Strategie gegen Einsamkeit“ bekämpfen. Für die Berliner Bezirksbürgermeisterin Emine Demirbüken-Wegner (CDU) reicht das allerdings nicht aus. Deshalb etabliert sie im Februar den ersten Einsamkeitsbeauftragten der Hauptstadt. Ein Modell auch für andere Regionen?
Im Interview spricht die CDU-Politikerin Emine Demirbüken-Wegner über die Vorhaben der Bundesregierung und erklärt, was sie konkret gegen die Einsamkeit in ihrem Bezirk Reinickendorf macht.
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Gesundheit hat vor über einem Jahr im Internet das „Kompetenznetz Einsamkeit“ ins Leben gerufen, um Ratsuchenden Hilfe anzubieten. Was halten Sie davon?
Es erreicht nicht diejenigen, für die es gedacht ist. Die große Zahl vereinsamter Senioren im Alter zwischen 70 und 90 Jahren nutzt das Internet nicht. Sie tauschen sich nicht online über ihre Sorgen und Nöte aus, sondern vertrauen traditionell nur bekannten Personen. Somit verfehlt dieser Ansatz der Bundesregierung sein Ziel.
Wie kann man die einsamen Menschen denn erreichen?
Indem man mit ihnen in Kontakt kommt. Ich habe Weihnachten viele einsame und bedürftige Menschen zum Weihnachtsessen eingeladen. Sie haben durch Mundpropaganda von der Einladung erfahren, denn viele der über 70-jährigen Menschen, die den Großteil der vereinsamten Menschen bilden, treffen Bekannte auf der Straße oder im Café. Wer von der Einladung gehört hat, gibt sie im persönlichen Gespräch weiter. Die Menschen kennen mich auch inzwischen, weil ich sehr oft unterwegs bin und mich für ihre Belange einsetze.
Will das nicht jeder Bezirksbürgermeister?
Selbstverständlich. Ich freue mich dennoch über meine Entscheidung, den Fachbereich Senioren nach meinem Amtswechsel direkt bei mir angedockt zu haben. Vereinfacht gesagt: Ich habe ihn zur Chefin-Sache erklärt. Das bedeutet: Probleme mit Vereinsamung werden nicht an irgendeiner Stelle eingegliedert, sondern ich bin direkt zuständig. Das nimmt mich in die Pflicht, denn die Menschen wissen, an wen sie sich direkt wenden können. Glauben Sie mir: Das kommt bei den Menschen an.
Mit großer Freude lade ich jedes Jahr zahlreiche einsame und bedürftige Menschen zu einem festlichen Weihnachtsessen in unserer Senioren-Freizeitstätte ein. Diese persönliche Zuwendung und Verantwortung wird von ihnen sehr geschätzt und hat einen positiven Einfluss auf unsere Gemeinschaft. Es erfüllt mich mit Dankbarkeit, dass viele unsere Einladung annahmen.
Wie erreichen Sie mit Ihren Hilfsangeboten die Menschen?
Meine regelmäßige Präsenz und mein Engagement für ihre Anliegen haben dazu geführt, dass ich in der Gemeinschaft mittlerweile gut bekannt und geschätzt bin. Wir betreiben neun Freizeiteinrichtungen, in denen über 1000 Senioren Mitglieder sind. Diese Einrichtungen spielen eine zentrale Rolle in der Bekämpfung der Einsamkeit und für die älteren Menschen.
Dank unserer Initiativen ist das Bewusstsein für dieses Thema gewachsen. So kommt es vor, dass ältere Personen uns kontaktieren, um auf einsame Bekannte hinzuweisen, worauf wir dann einen Kontakt herstellen können. All dies funktioniert persönlich, per Mundpropaganda. Die bevorzugte Kommunikation der älteren Generation ist nun einmal das persönliche Gespräch, gefolgt von Informationen aus Zeitung oder Aushängen in der Gemeinde. Das ist ein wesentlicher Aspekt im Kampf gegen die Vereinsamung.
Also die Problematik immer wieder „live“ ansprechen?
Richtig. Als ich auf einer Seniorenweihnachtsfeier vor kurzem darüber sprach, kamen zwei ältere Damen zu mir, die erzählten, dass sie einsam sind und niemanden hätten. Ich konnte sie auf die Liste für das Weihnachtsessen setzen.
Welche Maßnahmen erproben Sie noch?
Kürzlich diskutierte ich mit Vertretern von Einkaufsketten über die Einführung von „Plauderkassen“, an denen sich Menschen austauschen können. Ich habe vorgeschlagen, dies in ihren Vorständen zu erörtern, und warte jetzt auf Rückmeldung.
Wer spricht an einer „Plauderkasse“ über persönliche Probleme?
Bitte der Reihe nach: Zunächst entsteht ein Gespräch, dann baut man Vertrauen auf und öffnet sich weiter, vielleicht auch, um Probleme anzusprechen.
Was halten Sie von der „Strategie gegen Einsamkeit“ des Bundes mit 111 Maßnahmen zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts und des gesellschaftlichen Miteinanders?
Offen gesagt, hat mich jede Zeile betroffen gemacht – im negativen Sinne. Gerade wenn Familienministerin Lisa Paus betonte, dazu kein Geld zu gebrauchen, muss man wissen: Ohne Geld laufen auch die Maßnahmen vor Ort nicht. Wie soll dann die Förderung der angestrebten Initiativen aussehen? Das Papier ist vielleicht ein wichtiger Schritt auf der Bundesebene, jedoch nicht ausreichend durchdacht und daher halbherzig. Dieser Aktionismus nützt den Menschen, um die es eigentlich geht, nicht.
Hört sich so an, als ob man das Thema immer noch nicht ernst nimmt?
Es ist mir unbegreiflich, dass das Thema Einsamkeit noch immer unterschätzt wird. Mediziner sprechen bereits von einer „Einsamkeitssterblichkeit“. Einsamkeit ist kein Randthema, sondern ein gesellschaftliches und politisches Anliegen. Sie verursacht nachweislich Krankheiten wie Depression, Herzrhythmusstörungen, Übergewicht und verschlimmert bestehende Leiden.
Täglich sterben Menschen an Einsamkeit, oft allein in ihren Wohnungen. Es war ein Schock, als wir in Berlin vor einigen Jahren fast 300 Menschen tot und allein in ihrer Wohnung aufgefunden haben, ohne dass sie vermisst worden waren. Das zeigt die Dringlichkeit und Tragweite des Problems.
Von wem kann Deutschland lernen?
Viele unserer Nachbarn bieten interessante Ansätze, die Deutschland adaptieren und weiterentwickeln könnte: Das Vereinigte Königreich hat 2018 ein Ministerium für Einsamkeit eingerichtet, um das Problem über alle Altersgruppen hinweg zu bekämpfen. Dänemark ist bekannt für sein „Hygge“-Konzept, das darauf abzielt, Menschen zusammenzubringen. In den Niederlanden wird die soziale Interaktion gefördert – etwa in Wohnprojekten, die junge Menschen und Senioren zusammenbringen. Auch Schweden hat verschiedene Programme, die sich auf die Förderung von Interaktion zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen konzentrieren, um Einsamkeit zu verringern.
Was sind Ihre Forderungen?
Das Thema Vereinsamung muss an höchster Stelle angesiedelt und landesweit politisch strukturiert werden.
Bis es so weit ist, wollen Sie im Februar den ersten Einsamkeitsbeauftragten in Ihrem Bezirk auf den Weg schicken?
Wenn man Einsamkeit effektiv bekämpfen will, muss man wissen, wo die betreffenden Menschen leben. Hat man diese Daten, koppelt man sie mit den sozialen Angeboten in der Nähe. Ein wichtiger Schritt wäre es, die Bundesärztekammer und die Ärztekammer für das Land Berlin ins Boot zu holen. Ich kann sehr froh sein, dass die Berliner Ärztekammer hier bezüglich meiner Anfrage die Türen ganz weit aufgemacht hat. Es sollte beispielsweise den niedergelassenen Ärzten ermöglicht werden, Rezepte für Maßnahmen zur sozialen und gesellschaftlichen Teilhabe auszustellen, die dann mit den Krankenkassen abgerechnet werden können.
Wie soll das in der Praxis aussehen?
Sie fühlen sich einsam, suchen einen Arzt auf und dieser verschreibt Ihnen keinen Medikamentencocktail, sondern empfiehlt den Besuch einer lokalen Sozialeinrichtung, wo Menschen anderen Menschen beistehen. Diese Leistung wird durch die Krankenkassen finanziert.
Ob im Seniorenstift oder auf der Weihnachtsfeier – immer wieder treffen Sie auf die Mittellosigkeit einsamer Menschen. Was macht das mit Ihnen persönlich?
Im letzten Jahr hatte ich nach dem Weihnachtsessen am Heiligabend einen richtigen Kloß im Hals. So viele berührende Rückmeldungen gab es. Der Kontakt mit der Einsamkeit einzelner Menschen macht betroffen. Erst war der Kloß im Hals, aber dann dachte ich: „Das Beste, was du tun kannst, ist, diesen Menschen ein Stück Wärme und Liebe zu schenken.“
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