Ob Terminbuchungen, Überweisungen, Vorteile fürs Bahnfahren – viele Dienstleistungen werden zunehmend nur noch über App und Internet angeboten. Menschen, die nicht online sind oder sein wollen, grenzt das aus. Experten sprechen von Digitalzwang.
Ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft lebt in Deutschland ohne Internet – und erfährt im Alltag deshalb zunehmend Nachteile: Laut Statistischem Bundesamt sind rund 3,4 Millionen Menschen allein im Alter zwischen 16 und 74 Jahren noch nie online gewesen. Nicht von der Statistik erfasst werden die über 74-Jährigen (9,2 Millionen). Sie hinzugenommen, dürften noch ein paar Millionen Offliner hinzukommen. Noch größer ist die Gruppe, die kein Smartphone nutzt. Dem Deutschen Städte- und Gemeindetag zufolge nutzen mehr als 50 Prozent der über 65-Jährigen kein Smartphone: Rechnerisch sind das mehr als 9 Millionen Menschen, weit mehr als jede oder jeder Zehnte also.
Welche Probleme folgen für diese Bevölkerungsschicht aus der Digitalisierung? Ein Gradmesser dafür ist der „Digitalzwang-Melder“ des Vereins Digitalcourage. Mittlerweile sind Hunderte Beschwerden bei der Meldeplattform im Netz eingegangen, auf der Menschen ihre Erfahrungen mit sogenanntem Digitalzwang teilen können. Die Themen sind so unterschiedlich wie die Lebensbereiche, die die Digitalisierung umpflügt. Die Beschwerden bei der Meldeplattform sind nur die Spitze des Eisberges, weil Digital-Affine sie vorbringen. Aber sie vermitteln einen Eindruck, wo der technologische Fortschritt ausgrenzt.
Nutzer üben zum Beispiel Kritik an den Paketstationen der ehemals Deutschen Post, jetzt DHL Group, die nur mit dem Handy zu bedienen sind. Sie beschweren sich darüber, dass sie für bestimmte Vorteile bei Zugreisen zur Smartphone-App der Deutschen Bahn gedrängt werden. Sie melden Beschwerden, weil Arztpraxen nicht mehr telefonisch erreichbar sind, sondern Terminvergaben über Apps privater Anbieter erfolgen müssen.
Digitalzwang bei DHL und Bahn
Der Verein Digitalcourage setzt sich seit Jahren für Grundrechte und eine lebenswerte Welt in der digitalen Ära ein. „Wir wollen, dass Technik menschenfreundlich gestaltet wird – und dass es Alternativen gibt. Wir sehen es als einen Akt der Solidarität, dass Angebote auch für Menschen, die nicht im Internet sind bzw. kein Smartphone haben oder haben wollen, nutzbar sind“, sagt Rena Tangens von Digitalcourage. Der Zwang zur Smartphone-Nutzung bringe mit, dass man auf Schritt und Tritt von verschiedensten Apps verfolgt, analysiert und ausgewertet werde. Oder, wohl noch dramatischer, ganz ausgegrenzt wird.
Der Sozialwissenschaftler Jan-Felix Schrape forscht an der Universität Stuttgart zu den Schwerpunkten Innovations- und Techniksoziologie. Er sagt: „Ganz grundsätzlich geht es Unternehmen meist darum, persönliche Beratung jetzt in automatisierter Form digital stattfinden zu lassen.“ Dahinter steckt ein Geschäftsmodell. Die Organisationen hätten ein erhebliches Interesse daran, die Menschen an entsprechende Verfahren zu gewöhnen, weil damit große Kosteneinsparungen einhergingen. „Ein Problem besteht darin, dass die verantwortlichen Unternehmen und deren Abteilungen, die Apps und Software entwickeln, nicht hinreichend reflektieren, dass es viele Menschen gibt, die bislang noch kaum Bezug zur digitalen Welt haben“, sagt Schrape. Aus techniksoziologischer Sicht lasse sich „aber immer wieder feststellen, dass es bei neuen Entwicklungen eine große Gruppe an Nachzüglern gibt“.
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Viele Menschen fordern indes eine schnellere Digitalisierung. Neidvoll geht der Blick in die skandinavischen Länder, in denen Behörden-Dienstleistungen digital verfügbar sind. Hierzulande geht es schleppend voran. Symptomatisch sind die Witze über Fax-Geräte, mit denen die Gesundheitsämter die Corona-Pandemie unter Kontrolle bringen wollten. Das Ziel kann es also nicht sein, im Analogen steckenzubleiben. Für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ist die Digitalisierung von zentraler Bedeutung. Experten wie Rena Tangens von Digitalcourage plädieren allerdings dafür, bei allen digitalen Umwälzungen wo es geht analoge Zugänge offenzuhalten. Kurz: Es braucht die analoge Alternative. Der Soziologe sagt es so: „Neue Technologien eröffnen neue Spielräume, gleichzeitig gehen wir damit aber auch immer neue Abhängigkeitsverhältnisse ein.“
Wie groß ist diese Abhängigkeit konkret? Wo werden Menschen sanft dazu ermutigt, digitale Dienste zu nutzen, wo besteht ein handfester Zwang? Die Übergänge sind fließend, wie Beispiele aus dem Alltag zeigen.
Beispiel I: DHL Group, ehemals Deutsche Post
Mehr als 11.500 Packstationen gibt es in Deutschland. Ältere Modelle rüstet der Paketdienstleister aktuell auf sogenannte App-gesteuerte Packstationen um: Bei den rund 1100 betroffenen Geräten werden Display und Eingabefeld ausgebaut. Abholung und Versand sind nur noch mit dem Smartphone und einer Bluetooth-Verbindung möglich.
Ein DHL-Sprecher schreibt auf Anfrage: „Es ist uns sehr wohl bewusst, dass es auch Kund:innen gibt, für die die Nutzung der App-gesteuerten Packstationen zunächst einmal gewöhnungsbedürftig erscheinen mag. Aus eben diesem Grund bieten wir zahlreiche Zustellvarianten für alle an.“ Rena Tangens von Digitalcourage hält das, gelinde gesagt, für Augenwischerei: „Wir wissen inzwischen von etlichen Fällen, bei denen ein Paket zu Hause nicht zugestellt wurde und stattdessen in einer solchen App-gesteuerten Packstation gelandet ist.“ Man brauche sich nur eine Zeitlang vor eine solche Packstation zu stellen und werde mit großer Wahrscheinlichkeit auf Menschen treffen, die verwirrt vor der Packstation stehen und nicht wüssten, wie sie an ihr Paket herankommen sollen. „Das als gewöhnungsbedürftig zu verkaufen, erscheint mir zynisch. Es gibt ja viele Menschen, die bewusst nicht die DHL-App, die zur Abholung nötig ist, benutzen wollen“, sagt Tangens. Viele der Beschwerden des „Digitalzwang-Melders“ gingen wegen der DHL-Packstationen ein.
Beispiel II: Deutsche Bahn und das Bahnbonus-Programm
„Natürlich will die Bahn am liebsten alles digitalisiert haben, aber das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt einfach noch nicht umsetzbar“, sagt Detlef Neuß, Bundesvorsitzender des Fahrgastverbandes Pro Bahn. Er kritisiert, dass das sogenannte BahnBonus-Programm nur noch mit der offiziellen Bahn-App nutzbar sei. Zum Hintergrund: Den sogenannten BahnBonus-Status, ehemals BahnComfort genannt, erhalten Vielfahrer in drei Abstufungen (Silber-, Gold- und Platin-Status). Die Deutsche Bahn ermöglicht den Vielfahrern den Zugang zur DB-Lounge an Bahnhöfen, reserviert spezielle Plätze im Zug und lässt sogar Freigetränke springen. Früher war der Nachweis über eine BahnComfort-Karte zu führen, mittlerweile nur noch per App. Eine Sprecherin der Bahn sagt auf Nachfrage, dass mit der digitalen BahnBonus-Karte auf die Produktion von Tausenden Plastikkarten verzichtet werden könne und das Angebot damit nachhaltiger werde.
Neuß sieht auch die Vorteile, die die App bringt. Zum Beispiel, dass die Bahn durch deren Nutzung messen kann, wie ausgelastet Züge sind und diese Information direkt den Kunden zur Verfügung stellt. Mit Blick auf das Vorteile-Programm fällt sein Urteil aber hart aus: „Das aktuelle BahnBonus-Programm ist ein Schlag ins Gesicht aller Bahnfahrer, die nicht die offizielle App des Konzerns nutzen können oder wollen.“
Beispiel III: Supermärkte und Papier-Prospekte für Angebote
Am 1. Juli ging für Rewe und für den deutschen Einzelhandel, wie das Unternehmen selbst in einer Pressemitteilung schreibt, eine Ära zu Ende. Deutschlands zweitgrößte Supermarktkette verabschiedet sich vom Papier-Prospekt, der zuvor in Tausende Haushalte ging und in den Märkten auslag. Damit endet auch eine Ära, in der sich Kundinnen und Kunden offline umfassend auf vielen Seiten über günstige Lebensmittel informieren konnten. Statt zu den 25 Millionen Prospekten, die das Unternehmen jede Woche verteilte, sollen die Kunden nun auf digitale Kanäle ausweichen, wenn Sie Geld sparen wollen. Das geht über die Rewe-App (die Daten sammelt), den Newsletter oder die Website.
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Ein Rewe-Sprecher schreibt auf Nachfrage, dass auch noch TV, Radio, Plakate und Zeitungsanzeigen über die „300 attraktiven Sonderangebote“ informiere. Papier-Prospekte werden jedoch überhaupt keine mehr in den Märkten ausgelegt, bestätigt er. Der Schritt kommt dem Klima zugute: Mehr als 73.000 Tonnen Papier, 70.000 Tonnen CO2 und 1,1 Millionen Tonnen Wasser spare das Unternehmen nach eigenen Angaben ein. Wer aber kein Smartphone oder Internet hat und sich umfassend über Angebote informieren will, ist aufgeschmissen.
Beispiel IV: Arzttermine und Terminbuchungen
Dagmar Hirche muss nicht lange nachdenken, wenn sie nach dem einschlägigsten Beispiel für Digitalzwang im Gesundheitswesen gefragt wird. Die Unternehmerin, die Schulungen für Smartphone und Co. für ältere Menschen anbietet, erzählt, wie ihr Telefon während der Corona-Pandemie fast pausenlos klingelte: „Anfangs sollten sich ja die über 80-Jährigen impfen lassen. Das Problem war: Die Telefone waren überlastet und Termine gab es nur online. Die älteren Menschen riefen weinend bei mir an, hatten Angst um ihr Leben und wussten nicht, wie diese Impftermine gebucht werden können.“
Corona stieß eine Entwicklung an, die für die Digital-Affinen eine Erleichterung ist, Menschen ohne Internet und Smartphone aber in die Verzweiflung treibt: Arztpraxen regeln ihre Terminvergabe zunehmend digital – manche sogar ausschließlich. Das beobachtet auch Rena Tangens anhand der Beschwerden des „Digitalzwang-Melders“. Die Datenschützerin sagt: „Betroffen davon sind keinesfalls nur Senioren. Es sind auch Menschen, die aus finanziellen Gründen kein Smartphone haben. Und es sind solche, die sich sehr gut mit der Technologie der großen Anbieter auskennen und aus Sorge um die eigenen Daten auf die Systeme verzichten.“
Der Soziologe Jan-Felix Schrape beobachtet, dass ganze gesellschaftliche Gruppen während der laufenden digitalen Transformation aus dem Blick geraten sind. „Senior:innen und randständige Milieus spielen in vielen politischen und gesellschaftlichen Fragen der Digitalisierung kaum eine Rolle.“ Er vermutet, das liege an der vorherrschenden Wahrnehmung, Deutschland sei in Sachen Digitalisierung auf einer Nachholposition. Allen voran die FDP drücke aufs Tempo, dadurch fehle die Zeit „eine Art Interessenausgleich zu diskutieren oder tatsächlich zu sehen, welche Gruppen marginalisiert sind“. Der Verein Digitalcourage leitet daraus eine klare Forderung ab: Im Grundgesetz brauche es ein „Grundrecht auf ein analoges Leben“.