Erbenermittler: Suche nach unbekannten Verwandten

Erbenermittler in Büro in Berlin von ADD Holstein Die Erbenermittler Jan-Mathis Holstein (vorne) und Dr. Max Bloch (hinten) in ihrem Büro. Foto: ADD Holstein

Nach Schätzungen sterben jedes Jahr rund 60.000 Menschen in Deutschland, die eine erhebliche Erbschaft hinterlassen – aber scheinbar keine gesetzlichen Nachkommen. Hier beginnt die Arbeit von Erbenermittlern, die sie in abenteuerliche Recherchen führt und Familiengeheimnisse offenlegt.   

Berlin. Als Susanne Weber-Klein im vergangenen Sommer einen Anruf von ihrer Schwester bekommt, ist sie skeptisch. Die Schwester erkundigt sich, ob bei ihr dieser rätselhafte Brief auch angekommen sei. Eine neue Betrugsmasche? Ihre Geschwister hatte per Post ein Schreiben erreicht, das niemand einordnen konnte. Ein paar Tage später trudelt das Kuvert auch bei Weber-Klein ein. Darin heißt es: „Unser Unternehmen ermittelt in einer bisher ungeklärten Nachlasssache die gesetzlichen Erben.“ Die Empfängerin, Weber-Klein, gehöre zum Kreis der Erbberechtigten. Für konkrete Details könne man in Kontakt miteinander treten – allerdings müsse dafür der beigefügte Vertrag unterschrieben werden. Der Vertrag sieht vor, dass 30 Prozent des gesamten Erbanteils, dessen Summe unerwähnt blieb, an das Unternehmen ADD Holstein gehen. Damit wären die Kosten für die Bemühungen und aufwendigen Ermittlungen des Dienstleisters aus Berlin abgegolten.

„Irritiert hat mich und meine Geschwister, dass in dem Schreiben sehr genaue Angaben über Familienmitglieder enthalten waren. Da hatte also schon jemand eingängig recherchiert, was nicht auf einen billigen Betrug hindeutete“, sagt Weber-Klein, die ihren echten Namen nicht in der Zeitung lesen will. Die Thüringerin beschließt, sich selbst ein Bild zu machen. Aus ihrer Kleinstadt fährt sie zu der Adresse des Unternehmens in Berlin-Mitte, schicke Lage, ein futuristisches Bürogebäude aus dunklem Beton und Glas am Rosa-Luxemburg-Platz: Wie ein schwarzer Monolith hebt es sich von den umstehenden Häusern ab. Sie klingelt und trifft direkt den Geschäftsführer Jan-Mathis Holstein an. „Wir haben über unseren Fall gesprochen und ich habe schnell den Eindruck gewonnen, dass hier alles sachlich zugeht“, sagt Weber-Klein am Telefon. Sorgen, dass sie auf Kosten sitzenbleibt, werden ihr genommen. Das Honorar von 30 Prozent der Erbenermittler falle nur an, wenn das unverhoffte Erbe ausbezahlt werde. Kurz: Es gab nichts zu verlieren. Hätte sie das Angebot ausgeschlagen, wäre ihr der Name des Erblassers verborgen geblieben. „Wir hatten ein großes Interesse daran, den Namen des Verwandten zu erfahren. Meine Geschwister und ich sind sehr an Familiengeschichte interessiert. Leider liegt aber vieles im Unklaren“, sagt Weber-Klein. Was sie von den Erbenermittlern erfährt, kann sie kaum glauben: Sie hatte noch eine Tante, von der ihre Geschwister und sie nichts gewusst hatten.

Erbenermittler in Deutschland: Suche nach Verwandten

Rund 30 solcher Erbenermittlungs-Unternehmen gibt es in Deutschland. Meist arbeiten sie in kleinen Teams von ein paar Leuten. Die Recherchen nach unbekannten gesetzlichen Erben sind eine Wette auf den Erfolg: Die Erbenermittler gehen in Vorleistung, der Job setzt Risikobereitschaft voraus, weil sie ihr Honorar erst bei vollzogener Übertragung eines Nachlasses an die Erben bekommen. Der Beruf, der theoretisch jedem offensteht, hat eine mehr als 100-jährige Tradition in Deutschland. Die Arbeit erfordert Expertenwissen und Ausdauer: Vom Beginn einer Suche nach Erbberechtigten bis zur Honorarauszahlung an das ermittelnde Unternehmen können Jahre vergehen. Der Ablauf ist immer ähnlich. Hat ein Nachlassgericht keine Kenntnis von näheren Verwandten eines Verstorbenen, schaltet es einen Nachlasspfleger ein. Das sind vom Gericht beauftragte Fachleute, oft niedergelassene Rechtsanwälte, die den Nachlass sichern und erste Ermittlungen anstellen. Wenn der Nachlasspfleger selbst nicht mehr weiterkommt, weil die möglichen Erben zum Beispiel im Ausland leben und er vor Ort recherchieren müsste, überträgt er den Fall an einen Erbenermittler. Sie versuchen, die unbekannten Wurzeln verästelter Stammbäume offenzulegen.

Das monolithische Bürohaus in Berlin-Mitte trägt den Namen Black-Maze-Building („Schwarzes Labyrinth“). Der Name des Hauses eignet sich fraglos für den Sitz des Erbenermittlungs-Unternehmens ADD Holstein, geht es doch um verschlungene und labyrinthartige Recherchen. Im zweiten Stock sitzt Geschäftsführer Jan-Mathis Holstein in seinem hellen Büro und erzählt von überraschenden Momenten, die seine Arbeit bestimmen. „Wir haben aktuell zum Beispiel den Fall einer Dame, die schon vor 20 Jahren verstorben ist. Zunächst ging man von einem geringen Erbe aus. Nun wurden aber bei Umbauarbeiten in der Küchenwand ihrer ehemaligen Wohnung sehr hohe Vermögenswerte entdeckt“, sagt Holstein. Das Unternehmen besteht aus vier Mitarbeitenden, drei Historikern und einer Juristin, die im ständigen Austausch mit internationalen Recherchepartnern stehen. Die Erbenermittler müssen Urkunden zusammentragen, die eine Erbfolge plausibel machen. Die Dokumente werden schließlich vor Gericht eingereicht, um den Erbschein für ermittelte Nachfahren zu beantragen. Die oft langwierige und kostenintensive Suche im In- und Ausland, betont Holstein, sei der Hauptgrund, warum Erbenermittler eine relativ hohe Vergütung verlangen würden.

„Meist gehen wir im Stammbaum zunächst zwei Generationen nach oben, schauen uns also an, wer die Eltern und Großeltern gewesen sind, und versuchen von dort aus die Verwandtschaftsverhältnisse nachzuvollziehen“, sagt der Erbenermittler. In einigen Fällen werden aber auch Urgroßeltern oder sogar Ururgroßeltern als Ausgangspunkt für die Recherche genommen. „Wir kommen dann oft an die Grenze der Standesamtszeit im deutschsprachigen Raum“, sagt Holstein. Im Jahr 1876 führte das damalige Reichsgebiet ein einheitliches Personenstandsregister ein: Geburten, Eheschließungen und Todesfälle müssen seither beim zuständigen Standesamt gemeldet werden. Sie gelten Erbenermittlern als erste Quelle. „Um die Dokumente einzusehen, müssen wir teilweise Archive direkt aufsuchen. Zum Beispiel das Bundesarchiv in Bayreuth“, sagt Holstein. Das Bundesarchiv versammelt Unterlagen zu den Schäden der Vertriebenen und Flüchtlingen aus den ehemaligen Ostgebieten. Vor allem Polen, sagt der Erbenermittler, spiele bei vielen Recherchen eine Rolle, weil von dort nach dem Zweiten Weltkrieg viele Menschen nach Deutschland flüchteten.

Am 8. Mai 1945 wurde Nazi-Deutschland von den Alliierten besiegt. Aus den ehemaligen Ostgebieten wurden Millionen Menschen vertrieben und mussten flüchten. So war es auch in der Familiengeschichte von Susanne Weber-Klein. „Wir haben auch deshalb so große Lücken in unserem Stammbaum, weil meine Großeltern als deutsche Minderheit in Polen lebten. Mit unseren Eltern konnten wir leider nicht mehr richtig über sie sprechen, da sie früh gestorben sind“, sagt Weber-Klein. Sicher sei nur gewesen, dass die Großeltern im Zuge der Vertreibungswelle nach Deutschland kamen. Die zwei bekannten Kinder der Großeltern waren noch zu klein, um sich erinnern zu können. Großmutter und Großvater traumatisierte die Flucht offenbar so sehr, dass sie später nicht richtig über die Umstände sprechen konnten. Sie verloren kein Wort über das Geschwisterkind der Eltern, das Weber-Klein bis vor kurzem unbekannt war. „Wir vermuten, dass es als ältestes Kind wohl eigenständig auf der Flucht gewesen ist und sich allein durchgeschlagen hat“, sagt Weber-Klein. Während sie und ihre Familie in Ostdeutschland aufwuchsen, baute sich die Tante während der Teilung ein Leben in Westdeutschland auf. Bei ADD Holstein war der Genealoge Dr. Max Bloch für den Fall verantwortlich. Der Erbenermittler spürte in alten Archiven eine sogenannte Zählkarte auf, die Namen, Geburtsort und Geburtsdatum sowie die Namen der Eltern der unbekannten Tante enthielt. Außerdem konnte Bloch eine Heiratsurkunde sicherstellen, auf der Weber-Kleins Großeltern ebenfalls als Eltern geführt werden. Auf Grundlage dieser Dokumente beantragten Weber-Klein und ihre Geschwister inzwischen den Erbschein beim zuständigen Nachlassgericht.

Erbfälle überraschen auch Profis immer wieder

Nach Schätzungen gibt es in Deutschland etwa 60.000 Erbfälle pro Jahr, bei denen die gesetzlich Erbberechtigten unbekannt sind – und große Geldsummen im Spiel sind. Die Zahl hält auch der Rechtsanwalt und Nachlasspfleger Ralph Grützenbach für realistisch. Der Jurist aus Bonn sagt, dass vor allem Vertrauen und Unabhängigkeit in der Zusammenarbeit mit Erbenermittlern wichtig seien. Er kooperiere mit knapp einer Handvoll Erbenermittlern. „Die Ermittlungsunternehmen verfügen oft auch über ein breites Korrespondenten-Netz in Polen oder den USA und haben deshalb ganz andere Möglichkeiten, als wenn ich vom Schreibtisch aus recherchiere“, sagt Grützenbach. Immer wieder überraschen ihn Erbfälle, obwohl er schon 27 Jahre im Geschäft ist. Etwa jener Fall einer Verstorbenen aus dem Raum Siegburg, bei dem plötzlich ein Schließfach bei der Deutschen Bank in Mannheim auftauchte: Darin lagerten Hunderte Schmuckstücke und Edelsteine – die Erbschaft wuchs mit einem Schlag auf eine enorme Summe an. Oder jene alte Dame aus derselben Gegend, die in einfachen Verhältnissen zur Untermiete wohnte. In einem alten Koffer entdeckte man nach ihrem Tod massenhaft Briefumschläge mit Bargeld – schließlich belief sich das Erbe insgesamt auf 350.000 Euro. Gut erinnert sich Grützenbach auch an die Geschichte des Mediziners aus Königswinter, der in Süddeutschland eine Lagerfläche angemietet hatte. Dort entdeckten die Nachlasspfleger Dutzende Youngtimer und Ölgemälde im Wert von mehreren Hunderttausend Euro.

Die Erbin Susanne Weber-Klein sagt, dass für sie weniger der materielle Wert, sondern die ideelle Bedeutung zähle. „Wenn man im Rentenalter plötzlich etwas Neues über seine Wurzeln erfährt, neue Verwandte wie aus dem Nichts hinzukommen, berührt einen das wirklich zutiefst“, sagt sie. Beim Amtsgericht stehen nun noch einige Verwaltungsschritte aus, alle gesetzlichen Nachkommen müssen Unterschriften leisten, sich mit ihren Ausweisdokumenten identifizieren und schließlich das Erbe annehmen. „Am meisten freue ich mich, neue Netze zu knüpfen und mit den unbekannten Cousins bzw. Cousinen zu sprechen, um mehr über unsere Familie zu erfahren.“ So dürften sich für sie noch weitere Kapitel ihrer Familiengeschichte auftun. Sie wären verborgen geblieben, hätte Weber-Klein im vergangenen Sommer nicht jenen rätselhaften Brief geöffnet.

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