So beschreiben Spitzenpolitiker ihre politischen Utopien

Bundestag Reichstag in Berlin Kuppel bei Nacht Die vom Architekten Norman Foster entworfene Kuppel des Reichstages. Foto: Steffen Wahl / Pixabay

Es klingt wie ein Märchen von Übermorgen: Wie muss ein idealer Staat aussehen, in dem Menschen glücklich zusammenleben? Im 16. Jahrhundert, dem Zeitalter der Reformation, hat der Rechtswissenschaftler und Staatsmann Thomas Morus sein Hauptwerk „Utopia“ verfasst. Darin stellt er die Frage nach dem idealen Staat, das Werk gilt als eine der wichtigsten politischen Schriften der Neuzeit.

In diesem Monat jährte sich der Tod des Vordenkers (6. Juli 1535). Seine Fragen bleiben. Wie denken Bundespolitiker von heute über „Utopia“? Wir fragten Mitglieder von allen im Bundestag vertretenen Parteien nach ihrer persönlichen, politischen Utopie für die Gesellschaft: Janine Wissler (Linke), Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Thorsten Frei (CDU), Alice Weidel (AfD), Ricarda Lang (Grüne) und Ralf Stegner (SPD) haben geantwortet.

Janine Wissler, Bundesparteivorsitzende DIE LINKE: „In meiner Utopie ist das Leben viel freier und selbstbestimmter als heute. Die Arbeit wurde so umverteilt und verkürzt, dass die Menschen mehr Zeit haben für die Familie, um sich sozial und politisch zu engagieren, Zeit für Bildung, Freizeit und Erholung. Stress und Überarbeitung werden reduziert, körperliche und psychische Erkrankungen aufgrund von Überlastung und krankmachender Arbeit gehen drastisch zurück. Schlüsselindustrien und die öffentliche Daseinsvorsorge sind in öffentlicher Hand und unter demokratischer Kontrolle. In den Betrieben entscheiden die Beschäftigten demokratisch. 

Das Leben in meiner Utopie ist frei von Existenzangst. Wenn etwas schief geht, gibt es ein gut ausgebautes Sicherheitsnetz, das von der Jugend bis ins hohe Alter jeden auffängt und niemanden in Armut fallen lässt. Der gesellschaftliche Reichtum wird gerecht verteilt, so dass niemand in Armut lebt und die Infrastruktur gut ausgestattet ist. Private Milliardenvermögen gibt es nicht mehr. So wurden nicht nur die Verbesserungen bei Gesundheit und Bildung finanziert, sondern auch der Umbau zu einer nachhaltigen Wirtschaft, um den Klimawandel zu begrenzen. 

Durch eine internationale Bündnispolitik und eine stabile internationale Friedensordnung konnte weltweit abgerüstet werden. Die Welt ist frei von Atomwaffen. Geld, das früher in Rüstung geflossen ist, wurde genutzt, um den Hunger in der Welt zu bekämpfen. Die Zahl der Geflüchteten ist drastisch zurückgegangen, niemand stirbt mehr bei der Überwindung von Grenzen. Menschen können dort leben, wo sie wollen, unabhängig von Geburtsort und Pass.“

Utopien von Politikern: Wie sie sich die Zukunft wünschen

Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Vorstand FDP-Bundestagsfraktion: „In ‚Utopia‘ erdachte Thomas Morus vor über 500 Jahren eine ideale Gemeinschaft als Gegenentwurf zu den feudalen Ständegesellschaften in Europa im ausgehenden Mittelalter. Manche seiner Ideen waren geradezu radikal: In einer Zeit, in der eine Gesellschaft hauptsächlich aus Herrschenden und Dienenden bestand, entwarf er das bis dato wohl fortschrittlichste Staatswesen, in dem politische Macht größtenteils durch Wahlen erlangt wurde. Daran anknüpfend hat mein idealer Staat ein demokratisches Ordnungssystem, in dem das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit gilt. 

Das Fundament dieses Staates basiert auf Toleranz und individueller Freiheit. Meine ideale Gesellschaft ist eine, in der Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit gewährleistet sind – unabhängig von Herkunft oder Geschlecht. Menschen sollen frei von existenziellen Sorgen leben können. In meinem idealen Staat findet eine transparente sowie effektive Regierung freiheitliche Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit und stärkt so das Vertrauen der Menschen in die Politik. Letztendlich muss der Staat dafür sorgen, dass individuelle Freiheiten nichts Abstraktes bleiben, sondern für jeden Menschen erlebbar.“ 

Thorsten Frei, Parlamentarischer Geschäftsführer CDU/CSU-Bundestagsfraktion:  „Thomas Morus ist und bleibt mir stets ein wenig verdächtig. Ich bin misstrauisch gegenüber der politischen Verheißung des großen utopischen Glückes. Dieses Misstrauen speist sich aus dem christlichen Menschenbild und der mit ihm verbundenen Freiheit des Menschen. Ist der Mensch frei, besteht die Möglichkeit des Irrtums. Die grundsätzliche Möglichkeit falsch und im Unrecht zu sein, sollte auch der Politik Grenzen ziehen. Regieren ist nach meinem Verständnis keine allumfassende, sondern begrenzte Tätigkeit. 

Gerade wir Europäer haben diese leidvolle Erfahrung machen müssen: Dort wo eine politische Ideologie an die Stelle Gottes trat und den Anspruch erhob, nicht mehr allein von den vorletzten, sondern den letzten Dingen zu handeln; dort, wo Politik Ersatzreligion wurde und glaubte, den Menschen durch den Menschen erlösen zu können; dort, wo in der Politik nicht mehr um Interessen, sondern um „Wahrheit“ gerungen wurde, ging die Freiheit verloren. 

Der utopischen Verheißung Morus‘ sollte man die Frage Montaignes entgegenhalten, der beinahe sein Zeitgenosse war: Was weiß ich? Wessen bin ich mir so sicher, dass ich mich anmaßen könnte, alle Tatkraft der Menschen zu seiner Verwirklichung einzuspannen und ihnen ein umfassendes Handlungsmuster aufzuzwingen? Aufgabe des Staates kann es folglich nicht sein, den Bürgerinnen und Bürgern Überzeugungen und Tätigkeiten vorzuschreiben, sie zu belehren oder zu erziehen, sie anders oder in einem bestimmte Sinne „besser“ zu machen“

Ricarda Lang, Bundesvorsitzende DIE GRÜNEN: „Eine Utopie ist beides: eine Vision, wie unser Staat und unsere Gesellschaft sein könnten, und ein Wegweiser, wie man dorthin kommt. Sie stellt kein unerreichbares Idealbild dar, sondern lugt wie die Sonne hinter einer Gebirgskette vor und leuchtet damit den Weg der eigenen Umsetzung. Ohne Utopie wird der politische Prozess zur dauerhaften Momentaufnahme, in der die verantwortlichen Akteure von Legislatur zu Legislatur denken. 

In meiner politischen Arbeit treibt mich die Vorstellung einer Gesellschaft frei von Unterdrückung an. In dieser Gesellschaft wird das Versprechen der Französischen Revolution von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – das Wort Schwesterlichkeit gab es noch nicht – für alle Menschen eingelöst. Das Versprechen gilt universell und materiell, nicht nur auf dem Papier. Gemeinsam mit meiner Partei arbeite ich daran, die Voraussetzungen für diese Gesellschaft zu schaffen: Wir können der Klimakrise, sozialer Ungleichheit und den Bestrebungen von Autokraten mit einem neuen Gerechtigkeitsversprechen begegnen. Das Versprechen eines Staates, der darauf achtet, dass der klimaneutrale Wohlstand der Zukunft genau den Menschen zugutekommt, die ihn jeden Tag erarbeiten.“ 

Alice Weidel, Vorsitzende AfD-Bundestagsfraktion: „Wenn Politiker utopischen Vorstellungen anhängen und diese auch noch in die Realität umsetzen wollen, wird es gefährlich. Der Untergang des „real existierenden Sozialismus“, das letzte Großexperiment dieser Art, ist gerade mal 30 Jahre her.

Dennoch bestimmen insbesondere im Berliner Regierungsviertel utopische Vorstellungen immer mehr das politische Handeln. Realitäten – auch historische – spielen hierbei kaum mehr eine Rolle, der demokratische Souverän, die Bürger, immer weniger. Auf die „klassenlose Gesellschaft“ folgte die Utopie einer „Welt ohne Grenzen“, das Weltklima will die Ampel im Alleingang retten.

Völlig vergessen scheint, dass es die ideologiefreie Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit war, der wir, neben dem Fleiß der Bürger, den Wohlstand Deutschlands verdanken. Die ideologisch motivierte Bevormundungspolitik der Ampel führt zunehmend zu Sprech- und Denkverboten, ja einem Klima der Repression und Intoleranz im Namen von trügerisch wohlklingenden Begriffen wie „Vielfalt“, „Buntheit“ oder „Gleichstellung“.
Franz Josef Strauß hielt 1986 eine berühmte Rede, in der er prophetisch „vor zwei Roten und einem Grünen“ als „Faschingskommandanten“ auf dem „prunkgeschmückten Narrenschiff Utopia“ warnte. Sein Appell, auf dem Boden bürgerlicher Vernunft zu verbleiben ist aktueller denn je. “ 

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Ralf Stegner, SPD-Abgeordneter des Bundestages: „Thomas Morus wird das Zitat zugeschrieben „Tradition ist nicht das Halten der Asche, sondern das Weitergeben der Flamme.“. Vor diesem Hintergrund bedeutet die Erfahrung meiner Generation, anders als alle anderen Generationen zuvor, in Wohlstand und Frieden aufgewachsen zu sein, die Verpflichtung dafür zu sorgen, dass das für unsere Kinder und Enkel so bleibt.

Meine Utopie ist also, dass wir nicht nur die Erinnerung an die Verwüstung des 20. Jahrhunderts weitergeben, um daraus zu lernen, sondern die Utopie, dass die nachfolgenden Generationen es in der Hand haben, das Leben der Menschen zu verbessern. Konkret heißt das, auf einem bewohnbaren Planeten gut leben zu können, im Frieden nach Innen und Außen und mit Gerechtigkeit und Solidarität von der Beseitigung der Kinderarmut in unserem reichen Deutschland bis zu den globalen Gerechtigkeitsfragen in anderen Teilen der Welt. Schließlich gehört zu der Utopie die Freiheit, nicht nur in Europa in demokratischen Verhältnissen zu leben, sondern die Würde des Menschen überall erkämpft zu haben.“

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