Alleinunterhalter: Wie sich ihr Geschäft radikal wandelte

Auftritt des Alleinunterhalters Arne Prill in Kiel. Auftritt des Alleinunterhalters Arne Prill in Kiel. Foto: Reporterdesk

Die Alleinunterhalter am Keyboard kämpfen ums Überleben. Technik und Zeitgeist krempelten die Branche in den vergangenen Jahren um. Ihre Nachfolger müssen sich Alternativen überlegen und dringen in neue Weiten vor. Ein Ortsbesuch.

Hinweis: Erst kurz nach Veröffentlichung des Artikels erfuhren wir, dass Arne Prill am 19. April plötzlich verstorben ist. Wir sprechen seiner Familie unser Beileid aus. In der Traueranzeige heißt es, Prill hätte sich über eine Spende an den Lacey-Fund gefreut, ein Verein für die Verbesserung von Haltungsbedingungen von Tieren.

Kiel Vor zwei Stunden, als der Saal noch leer ist, baut Arne Prill sein Mischpult auf, öffnet den Laptop. Er zückt ein mit funkelnden Pailletten besticktes schwarzes Tuch und drapiert sorgfältig das Mikrofon darauf. Zum Schluss bedeckt er das Arrangement aus Kabeln hinter einem großen Plakat, auf dem in geschwungener Schrift „Musik ist Trumpf“ steht. Darunter etwas kleiner: „Schlager, Hits & Evergreens einer tollen Zeit“. 

An diesem Mittwoch ist Frühlingsfest im Kieler Seniorenzentrum Freiligrathstraße. Und der bullige Arne Prill will als „DJ Arne“ vor rund 50 Senioren für Unterhaltung sorgen. Vor der Show raucht der Alleinunterhalter draußen noch eine letzte Zigarette: Durch die Scheiben beobachtet er, wie ältere Damen mit langsamen Schritten hineingeführt werden, gefolgt von anderen, in Rollstühlen. 

Er kennt diese Bilder und hat gelernt: Die Reaktionen seines Publikums werden nicht nur Applaus sein, sondern auch im Takt trommelnde Fingerspitzen auf Rollstuhllehnen und sanft mitwippende Damenschuhe, die schon ein Erfolg sind. So spiegelt sich, sagt Prill, die Begeisterung von Menschen wider, die nicht mehr aufspringen können, aber von Musik berührt werden. „An Stellen, wo Ärzte und Pfleger nicht mehr hinkommen“, sagt der Musiker nach zehnjähriger Erfahrung an diesen Auftrittsorten. 

Alleinunterhalter Arne Prill vor seinem Auftritt in dem Kieler Seniorenheim.
Alleinunterhalter Arne Prill vor seinem Auftritt in dem Kieler Seniorenheim. Foto: Reporterdesk

Arne Prill gehört zu einer aussterbenden Spezies. Viele Alleinunterhalter sind raus aus dem Geschäft, weil die Nachfrage in den vergangenen Jahren massiv nachgelassen hat. Von seinen ehemaligen Kollegen, die damals auf Hochzeiten und Firmenjubiläen spielten, wurde Prill vor zehn Jahren ausgelacht, weil er in Seniorenheimen auftrat. Heute arbeiten diese Kollegen als Pizzalieferanten oder Taxifahrer und „DJ Arne“, einer der letzten Alleinunterhalter im Norden, steuert für seine Auftritte regelmäßig 30 verschiedene Einrichtungen für Senioren an. 

Gelernt hat er Saxofon, reiste mit Jugendorchestern durch Deutschland. Kurz vor dem Abschluss seiner Ausbildung zum Kindererzieher, wechselte er zum Zirkus „Sarrasani“ machte seinen Eltern zuliebe eine Ausbildung als Verkäufer in einem Musikgeschäft, war parallel als Saxophonist in einer Showband und Alleinunterhalter am Keyboard unterwegs. Und das war in den 80er Jahren, ein richtig gutes Geschäft. 

Alleinunterhalter waren einst Könige am Keyboard

Eine technische Entwicklung war dafür entscheidend – Rhythmus-Maschinen mit Begleitautomatik. Erste Heimorgelhersteller implementierten diese Mitte der 70er in ihre Instrumente. Die faden Orgelklänge wurden durch flotte Konservenrhythmen plötzlich tanzbar und lösten Begeisterung beim Publikum aus. Der Alleinunterhalter oder “Mann mit dem Wunderkasten”, wie man damals sagte, trug Smoking, wiegte sich im Takt der Melodie und konnte auf Knopfdruck Rumba oder Tango-Muster abspielen lassen, die seine Akkorde begleiteten. In den 80er Jahren waren Schallplatten mit Titeln wie „Happy Hammond“ oder „Pop Orgel“ ein Hit, auf dem Bildschirm traten „Fernsehorganisten“ auf und Bundeskanzler Helmut Kohl ließ sich Pfeife rauchend neben Ehefrau Hannelore ablichten, die zu Hause in Oggersheim in die Tasten der Heimorgel griff. 

Aus der Zeit, als Alleinunterhalter noch Könige am Keyboard waren, weiß auch Bernd Geischer aus Erftstadt zu berichten. „Es gab keine Handys mit Internet, MP3-Player oder Spotify-Playlists. Um Musik zu machen, wurde entweder das Radio angemacht oder eine Platte aufgelegt.“ Wenn einer live gespielt habe, sei das eine kleine Sensation gewesen, dann seien die Leute in Scharen gekommen. An Bord von Kreuzfahrtschiffen verdiente Bernd Geischer damals bei freier Kost und Logis sechstausend Mark im Monat. „Auf See habe ich morgens ganz entspannt eine halbe Stunde zum Frühschoppen gespielt, nachmittags eine Stunde zum Kaffee und abends noch eine Stunde an der Bar, bis alle im Bett waren. Es war die Zeit der gepflegten Unterhaltung“

Doch die Unterhaltung veränderte sich mit den Jahren grundlegend, sie wurde schneller, beliebiger und unverbindlicher. Erst kamen die von Partygastgebern zusammengestellten CDs, später die MP3- und Playlisten. Und die Konzentration der Gäste verflüchtigte sich zusehends. So beobachtete es Alleinunterhalter Klaus Eberhard Kaupp aus Radolfzell am Bodensee. „Auf Hochzeiten zu spielen war die Hölle.“ Die Leute waren ständig mit ihren Handys beschäftigt: Sie fotografierten, schrieben, filmten.

„Nach dem Rauchverbot konnte man die Leute gar nicht mehr unter einen Hut bringen, weil die Hälfte deswegen draußen war.“ Heute ist er auf Gitarre umgestiegen und spielt für 300 Euro am Abend Country- und Westernsongs. “In meinem Umfeld haben sieben Coverbands aufgegeben, andere Alleinunterhalter können ihre Krankenversicherung oder Miete nicht mehr bezahlen, weil sie zu wenig einnehmen”, sagt Kaupp. 

Alleinunterhalter Arne Prill spielt „Schlager, Hits & Evergreens“

Der Himmel hängt grau über dem Seniorenheim. „DJ Arne“, alias Arne Prill, hat inzwischen sein dunkles Jackett übergeworfen, am linken Revers steckt ein silbernes „A“. Er steht jetzt hinter seinem „Musik ist Trumpf“-Plakat. Bevor es losgeht, kundschaftet er die Sehnsüchte der Gäste aus. Seine Testballons heißen „Schwarzer Kater Stanislaus“, „La Paloma“ und „Zwei Herzen im Dreivierteltakt“ – Instrumentaltitel vom Band, die verraten, was später funktionieren könnte: Am Tisch halbrechts von seiner Anlage wippen Damenschuhe mit dem „Schwarzen Kater Stanislaus“, zwei Tische weiter links hält ein älterer Herr bei „La Paloma“ inne und sein Lächeln bezeugt Zustimmung. Das funktioniert, ahnt Prill. 

Arne Prill spielt mittlerweile vor allem in Seniorenheimen.
Arne Prill spielt mittlerweile vor allem in Seniorenheimen. Foto: Reporterdesk

Dann greift er zum Mikrofon auf dem schwarzen Pailletten-Tuch und spricht ein paar Grußworte. Er holt das Publikum ab: „Ich bin als Kind zum größten Teil bei meiner Oma aufgewachsen. Oma kam damals aus Großschlamin, das werden sie nicht kennen. Das ist ein kleines Dorf in der Nähe von Grömitz und wie wir alle wissen, wird auf dem Dorf plattdeutsch gesprochen. Jetzt frage ich mal in die Runde: Wer von Ihnen spricht oder versteht plattdeutsch – bitte mal die Hände hoch“. Langsam heben sich acht Hände vor ihm und ein Lächeln huscht über einige Gesichter. „Oh, wie ich sehe, sind doch einige hier im Raum“, lacht der DJ, während die rechte Hand am Lautstärkeregler des Mischpults verschwindet, um den Titel einzublenden. „Heidi Kabel singt jetzt für uns: `An der Eck steht’n Jung mit dem Tüdelband`…” 

In der nächsten Stunde spielt DJ Arne die angekündigten „Schlager, Hits & Evergreens“. Die Mitarbeitenden des Heims fahren pausenlos Servierwagen mit Eis, Kuchen und Getränken in den Saal. Der Kampf um die Aufmerksamkeit ist heute nicht leicht für Prill. Doch immer wieder packt sein Programm die Zuschauer: Das sieht man am leichten Schunkeln, an den Minimalbewegungen von Schuhspitzen, an einem Lächeln, vielleicht eine Spur zu lang, dafür von echter Seligkeit belebt. 

Was ihn antreibt, warum Prill immer wieder Auftritt? Es ist nicht nur das Geld. „Vielleicht ist meine Musik für mich auch eine Möglichkeit, diesen Menschen in ihrer letzten Lebensphase ein kleines Dankeschön zu sagen“, sagt er nach der Show, wieder bei einer Zigarette. Dann wird er ernst: „Ich mag die alten Menschen, denen meine Generation viel zu verdanken hat. Sie haben zum Teil in jungen Jahren Schreckliches erlebt und nach dem Krieg dafür gesorgt, dass wir heute in einem demokratischen Land ohne Angst leben können.“ Er denke auch daran, wie es einmal sein wird, wenn er selbst in einem Heim wohnt und auf Hilfe angewiesen ist. Es ist fraglich, ob dann jemand vorne steht, der die alten, schönen Erinnerungen mit Musik wachspielt. Wenn ihm das, solange er kann, bei einigen Bewohnern immer wieder gelingt, ist das Motivation genug. Es ist die Königsklasse.

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