Maria Hensler hat einst eine der ersten Nachbarschaftshilfen in Deutschland gegründet. Aus dem regionalen Funken wurde eine Bewegung der Hilfsbereitschaft, aus der mehr als 100 Vereine hervorgegangen sind.
„Das ist schon ein bisschen mein Lebenswerk“, sagt Maria Hensler mit einem strahlenden Lächeln bei Filterkaffee und Zitronenkuchen. Die 75-Jährige sitzt in ihrem urigen Familienholzhaus in Gaienhofen im Landkreis Konstanz an einem großen Massivholztisch, lässt den Blick aus den Panoramafenstern durch den mit Hortensien und Lilien gesäumten Garten und weiter auf den Bodensee schweifen. 2003 hat Hensler hier auf der Halbinsel Höri den Verein „Hilfe von Haus zu Haus“ gegründet – eine der ersten professionellen Nachbarschaftshilfen Deutschlands. Daraus ist das landesweite „Netzwerk Nachbarschaftshilfe “ entstanden, mit mittlerweile fast 100 Vereinen in ganz Baden-Württemberg.
Jetzt sitzt sie kopfschüttelnd da und blickt zurück. „In diesem Haus hat alles angefangen“, sagt Hensler und lässt die Arme durch die Luft kreisen. „Oben lag mein immer dementer werdender Mann, im Untergeschoss meine gebrechliche Mutter – und ich war völlig am Anschlag.“
Ihr Mann erkrankt an Alzheimer
Nach mehreren Schlaganfällen wird Maria Henslers Mutter 2000 zum Pflegefall, sie kann nicht mehr gehen, nicht mehr sprechen, ist rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen. Parallel erkrankt ihr Mann Helmut an Alzheimer . Der Kommunalpolitiker, der 24 Jahre als Bürgermeister die Geschicke von Gaienhofen lenkte, erkennt irgendwann seine eigene Frau nicht mehr, braucht bei den alltäglichsten Dingen Zuspruch und Unterstützung. Zwei Jahre lang stellen beide parallel Maria Henslers Leben auf den Kopf. „Ich war emotional so erschöpft“, sagt sie heute, „voller Trauer, weil mein Mann als Mensch, den ich kannte, verloren ging – und musste dennoch ständig funktionieren!“
Was sie in einem Nebensatz erwähnt: Sie ist auch Mutter von sieben Kindern und Oma von zehn Enkeln. Als sie plötzlich zur pflegenden Angehörigen wird, leben drei der Kinder noch zuhause, machen am Massivholztisch ihre Hausaufgaben, während das Familienleben kopfsteht. „Ohne die Kinder wäre ich verloren gewesen. Sie haben mich wahnsinnig in der Pflege unterstützt“, sagt Maria Hensler. „Ein afrikanisches Sprichwort besagt, dass man, um ein Kind großzuziehen ein ganzes Dorf braucht – und das gilt auch für die Pflege von Angehörigen“, sagt Hensler, „ohne meine Großfamilie, bei der alle mit anpacken, wäre ich auf jeden Fall zusammengebrochen!“
Als ihr klar wird, dass nicht jeder solch eine Großfamilie hat, entschließt sie sich, eine Nachbarschaftshilfe zu gründen. Das Prinzip: Pflegeleistungen übernehmen die Nachbarschaftshelfer nicht. Sie entlasten Pflegebedürftige und Angehörige durch ganz alltägliche Dinge: Einkäufe, Spaziergänge am See, Spielenachmittage, Fahrdienste zu Arztbesuchen oder Unterstützung beim Kochen oder Reinemachen. Doch dieses ganz menschliche, niederschwellige Hilfsangebot – stößt unerwartet auf Gegenwind von vielen Seiten.
„Die Idee für,Hilfe von Haus zu Haus’ war ja recht neu. Die lokalen Sozialstationen und Pflegeeinrichtungen haben uns erst mal als Konkurrenzangebot wahrgenommen“, erinnert sich Hensler. „Und Entscheidungsträger für Fördermittel konnten uns keiner Kategorie zuordnen. Wir haben ständig gehört: ‚So geht es nicht‘.“ Aber wie es wirklich geht, kann damals keiner sagen. Statt aufzugeben, entschließt Maria Hensler: „Jetzt erst recht!“
Hensler schreibt an alle Landes- und Bundestagsabgeordneten
Als Vorsitzende der Katholischen Landfrauenbewegung wirft sie ihre Netzwerk-fühler aus und kann die katholische Kirche im Jahr 2003 überzeugen, im Rahmen des Projekts „Kirche im ländlichen Raum“ finanzielle Starthilfe zu geben. Nach einem Besuch im Ministerium Ländlicher Raum erhält Hensler den Hinweis auf das Förderprojekt „Innovative Maßnahmen für Frauen im ländlichen Raum“ und bekommt bald darauf zusätzliche Fördermittel. Maria Hensler kann erste Einsatzleiter einstellen, die Ehrenamtliche gewinnen und die Einsätze koordinieren. „Ein Ziel, das wir zusätzlich hatten, war es wohnortnahe Minijob-Möglichkeiten für Frauen im ländlichen Raum zu schaffen“, erinnert sich die siebenfache Mutter. Aber auch das war nicht ohne Kampf möglich. Wieder hört sie: „So geht es nicht!“
Weil die Helferinnen und Helfer als Zeichen der Wertschätzung elf Euro Stundenlohn bekommen, gelten sie anfangs nicht als Ehrenamtliche, müssen versichert werden und Steuern zahlen – was die Kosten unnötig in die Höhe treibt und dem Projekt Steine in den Weg legt. Maria Hensler entschließt, einen Brief an alle Landes- und Bundestagsabgeordneten Baden-Württembergs zu schreiben. Ihr Plädoyer: „Die Gesellschaft wird älter und es braucht hybride Lösungen aus Pflegepersonal und Ehrenamtlichen. Menschen brauchen Menschen – und pflegende Angehörige brauchen Pausen für Herz und Seele. Nur zusammen schaffen wir das!“
Der Grundstein ist gelegt
Und sie hat, gemeinsam mit anderen Kämpfern, tatsächlich Erfolg: 2007 wird bundesweit die Ehrenamtspauschale gesetzlich verankert. Dadurch können Ehrenamtliche heute 840 Euro pro Jahr steuerfrei dazuverdienen, Nachbarschaftshelfer und Übungsleiter in Vereinen sogar 3000 Euro.
„Weil der Grundstein gelegt war, dachte ich: Warum nicht größer denken?“ Also besucht Maria Hensler nach und nach Gemeinden in ganz Südbaden, stellt erst Rathauschefs, dann Bürgern und Gemeinderäten ihr Nachbarschaftsangebot „Hilfe von Haus zu Haus“ vor, bietet Unterstützung bei der Umsetzung vor Ort an und stellt selbst entwickelte Schritt-für-Schritt-Anleitungen zur Verfügung, um Synergien zu schaffen. Was dabei auch eine Herausforderung war: „Die Bürgermeister der Gemeinden waren meist männlich und hatten nie Berührungspunkte mit der Pflege von Angehörigen – wenn es doch schon einer erlebt hatte, sagte der sofort seine Unterstützung zu, weil er die emotionalen Herausforderungen aus seiner Familie kannte.“ Doch sie gibt nicht auf, fährt pro Jahr rund 20.000 Kilometer kreuz und quer durchs Ländle, um Menschen von ihrer Idee zu begeistern – und schafft es immer mehr Menschen zu überzeugen!