Eine Bewegung aus dem Silicon Valley gewinnt in Deutschland zunehmend Anhänger: Effektive Altruisten wollen das Helfen und Spenden neu erfinden, um globale Probleme zu lösen. Wie soll das gelingen?
Martin Korzeczek steht in einem abgedunkelten Seminarraum des Gebäudes M26 der Universität Ulm, durch die Jalousie fällt der Blick auf den Campus, einige Studierende schlendern draußen vorüber. Korzeczek, 30 Jahre alt, schmale Statur, T-Shirt, beginnt mit sanfter Stimme seine Präsentation: „Willkommen zum zweiten Treffen zum Thema Globale Gesundheit“, begrüßt er die Anwesenden auf Englisch.
Dass er den Vortrag nicht auf Deutsch hält, ergibt Sinn: Die Daten, auf die er seine Präsentation stützt, stammen aus dem angelsächsischen Raum und das Thema ist buchstäblich weltumspannend. „Die Einschnitte der amerikanischen Entwicklungshilfe USAID Anfang des Jahres haben die Situation grundlegend geändert. Es bleibt abzuwarten, wie groß die Auswirkungen sein werden“, sagt er und tippt auf seine Fernbedienung. Auf der Leinwand erscheint ein Graph mit den häufigsten Todesursachen von Babys: Mangelernährung und Luftverschmutzung. Korzeczek studiert nicht Medizin oder Soziale Arbeit, sondern Physik. Wie kommt er zu diesem Vortrag?
Effektiver Altruismus in Deutschland: Lokalgruppen in vielen Regionen
Das liegt an einer persönlichen Entwicklung, die 2018 begann. Damals, erzählt er im Gespräch ein paar Tage zuvor, hat sich für ihn grundsätzlich etwas gedreht. Er studierte in Tübingen und stieß im Internet auf das Thema „Effektiver Altruismus“. Sofort war er elektrisiert. „Altruismus war mir schon immer wichtig. Die Effektivität hatte ich in diesem Zusammenhang aber nicht im Blick“, erinnert sich Korzeczek. Theorielastige Physik auf der einen Seite, anderseits der Wunsch „explizit etwas Wertvolles zu tun“, etwas Konkretes: Was er im Netz las, versprach diese Pole miteinander zu vereinbaren.
Als Korzeczek während Corona fürs Studium nach Ulm kam, nahm er digital an Gesprächsrunden und Workshops einer Effektiven Altruisten-Lokalgruppe aus München teil. „Zu diesem Zeitpunkt hatte ich für mich entschieden, dass ich meinen Lebensentwurf an dieser Denkschule ausrichten will.“ In Ulm gab es keine Lokalgruppe, also gründete der Student vor drei Jahren eine eigene. Wöchentlich treffen sich seither zwei Handvoll junger Menschen, diskutieren in Workshops über globale Gesundheit, die Risiken von Künstlicher Intelligenz oder kriegerische Großkonflikte.
Im Gebäude M26 der Uni Ulm stellt Korzeczek heute eine Organisation mit dem Namen „Against Malaria Foundation“ vor. „Durch Spenden haben sie mehr als 350 Millionen Malarianetze ermöglicht“, erklärt er. „Und das mit einem Team mit gerade mal 11 Leuten. Es ist ein sehr gutes Beispiel für eine effektive Hilfe.“ Der Workshop soll motivieren, sich selbst einzubringen.
Die Bewegung des Effektiven Altruismus (EA) basiert auf strenger Logik und Vernunft, um die wirksamsten, moralischen Entscheidungen zu treffen und die Welt zu verbessern. Es geht darum, mit Ressourcen wie Zeit, Geld oder Fähigkeiten möglichst Gutes zu bewirken. Die Wurzeln des EA liegen in der Philosophie und der sogenannten evidenzbasierten Wohltätigkeit. In den 1970ern formulierte der australische Philosoph Peter Singer, einer der Gründerväter der Bewegung, mit seinem Essay „Hunger, Wohlstand, Moral“ die Idee, dass Menschen in reichen Ländern eine moralische Pflicht haben, ihren Wohlstand effektiv zur Bekämpfung globaler Not einzusetzen. Anfang der 2000er griffen Philosophen aus Oxford wie Toby Ord und William MacAskill dieses Denken auf und gründeten 2009 die Organisation „Giving What We Can“, die zu einer verpflichtenden Spende von mindestens 10 Prozent des Einkommens anleitet. Kurz darauf entstand 2011 die Dachorganisation Centre for Effective Altruism (CEA), unter der mehrere Hilfsorganisationen gegründet wurden.
GiveWell und Co.: Viele spenden 10 Prozent des Einkommens
Zehn Prozent seines Einkommens spendet der Effektive Altruist Martin Kies, ein Mitstreiter von Martin Korzeczek. „Thematisch teile ich meine Spenden in zwei Hälften auf. Ein Teil geht in die globale Gesundheit, also zum Beispiel in die Against Malaria Foundation, die sehr effektive Malarianetze verteilt“, sagt der Data-Scientist Kies. Die Moskitonetze sind ein gutes Beispiel für ein typisches EA-Projekt: Die Kosten pro Netz sind klein, der lebensrettende Nutzen in afrikanischen Ländern südlich der Sahara groß. Die Plattform „GiveWell“ ist eines der wichtigsten Werkzeuge, um zielgerichtet zu spenden, weil dort Spendenprogramme einer Kosten-Wirksamkeits-Analyse unterzogen werden: Welche Projekte bringen beim Einsatz eines Dollars den größten Nutzen?
Seit US-Präsident Donald Trump Anfang des Jahres die Behörden für Entwicklungshilfe USAID zusammenspart, hat das Thema Spenden neue Brisanz erlangt. Gut 5.800 Verträge mit Entwicklungshilfeprojekten mit einer Laufzeit von mehreren Jahren seien um 92 Prozent gekürzt worden, teilte das US-Außenministerium im Februar mit. Dies entspreche einer Summe von rund 54 Milliarden Dollar (rund 52 Milliarden Euro). Laut dem Center for Global Development förderten die USA zuvor etwa 20 Prozent bis 25 Prozent der gesamten globalen Hilfe zur Unterstützung von Gesundheitsprogrammen zur Bekämpfung von Malaria, Tuberkulose, HIV, Gesundheitsproblemen für Mütter und Kinder und vieles mehr.
„Die Spendenplattform GiveWell hat deshalb ein Notfallprogramm gestartet“, sagt Martin Kies. Kies‘ Spenden fließen zudem in den sogenannten „Zukunft bewahren“-Fonds, der Projekte fördert, die existentielle Menschheitsrisiken eindämmen wollen (Atomkriege, Pandemien, Risiken durch neue Technologien wie Künstlicher Intelligenz).
Das sogenannte „X-Risk“, das „existential risk“, spielt für viele EA eine immer wichtigere Rolle. Ging es Ende der 00er-Jahre während der Entstehung des Effektiven Altruismus hauptsächlich um globale Gesundheit und Entwicklungsarbeit, bekamen existentielle Risiken und langfristige Verbesserungen mehr Aufmerksamkeit. Eng verknüpft ist die Bewegung mit dem Silicon Valley. Tech-Milliardäre wie Elon Musk oder Peter Thiel gelten als Impulsgeber.
Der Effektive Altruismus versteht sich als offene Gemeinschaft, für die sich jeder engagieren kann, eine Führungsgruppe gibt es nicht. In mehr als 40 Ländern treffen sich Lokalgruppen, um Workshops zu halten und miteinander ihr Engagement zu diskutieren. Sie organisieren sich dezentral, eine Mitgliedschaft ist nicht nötig. „Ich würde mich auf jeden Fall als festen Bestandteil des EA in Deutschland bezeichnen, bin aber im rechtlichen Sinne nicht Mitglied“, sagt Martin Kies. Deshalb ist es schwierig, die Zahl der Engagierten zu fassen. Laut dem Verein Effektiver Altruismus Deutschland gibt es mehr als 20 Lokalgruppen in Deutschland. Nach Schätzungen dürften sich einige Tausend Effektiven Altruisten hierzulande engagieren. Über die EA-Plattform „Effektiv Spenden“, das deutsche Pendant zu „GiveWell“, haben seit dem Jahr 2019 laut eigenen Angaben mehr als 20.000 Menschen über 50 Millionen Euro in Projekte einfließen lassen.
Weltweit dürfte die Community einige Zehntausend Engagierte umfassen. Das EA-Beratungsinstitut „80.000 Hours“ (der Name geht zurück auf die 80.000 Stunden, die ein Mensch durchschnittlich arbeitet und soll dazu anregen, diese Zeit sinnvoll zu nutzen) teilt auf Anfrage mit, dass es schätzungsweise seit dem Jahr 2023 von rund 1 Milliarde Dollar Spendengeldern pro Jahr ausgeht – mit deutlicher steigender Tendenz.
Doch die Bewegung des Effektiven Altruismus provozierte zuletzt immer wieder Kritik. So wird dem EA vorgeworfen, nicht genügend für gegenwärtige Probleme wie Armut und den Klimawandel zu tun, weil diese nicht als unmittelbar existenzielle Gefahren eingestuft werden. Kritiker bemängeln, dass der EA sich zu sehr auf kurzfristig messbare, technische Lösungen konzentriert und dabei die Ursachen von Problemen, wie strukturelle Ungleichheit oder politische Missstände, ausblendet. Statt grundlegende Veränderungen zu fordern, so der Vorwurf, arrangiere sich EA mit bestehenden Systemen und verstetige damit das Elend, anstatt es zu beseitigen. Ein weiterer Vorwurf: Treibt man die Idee der Zahlen auf die Spitze, stellt sich die Frage, wie effektiv eigentlich Obdachlosenhilfe oder Seenotrettung ist. Müssten diese nicht wegfallen, wenn Malarianetze messbar mehr Leben retten?
Reaktion auf Kritik am Effektiven Altruismus
Martin Kies und Martin Korzeczek reagieren gelassen auf die Kritik. „Beim Abbau von bestehenden Strukturen sollte man sehr vorsichtig sein. Die blinde Umverteilung von Hilfsgeldern entspricht nicht dem Spirit von EA“, sagt Marin Kies. Die zentrale Idee sei es, in Grenznutzen zu denken: Wenn zusätzliche Spenden bei Seenotrettung oder lokaler Sozialhilfe wenig zusätzliche Wirkung erzeugten, weil bereits viele Ressourcen vorhanden sind, könne es sinnvoller sein, das Geld dort einzusetzen, wo noch ein Engpass besteht. „Das schließt aber explizit nicht aus, dass lokale Hilfe weiter bestehen oder sogar wachsen sollte“, sagt Kies.
Auf den Vorwurf, es werde zu wenig gegen Armut getan, sagt Martin Korzeczek: „Gerade im Zusammenhang mit globaler Gesundheit bleibt Armut ein zentrales Thema für EA, auf das weiterhin ein großer Teil der Anstrengungen gehen, auch wenn anteilsmäßig das Thema existentielle Bedrohungen in den letzten Jahren größer geworden ist.“
Und zum Klimawandel betont Martin Kies: „Die Lösungsansätze sind schon relativ gut finanziert und werden von großen Teilen der Öffentlichkeit unterstützt. Kurz gesagt: Wenn sich bereits sehr viele Leute um das Problem kümmern, dann hilft das persönliche Engagement eines einzelnen auch bei einem sehr großen Problem wie dem Klimawandel nur ein wenig weiter. Das Ziel muss es also sein, einen Hebel zu finden, der besonders wirksam und noch vergleichsweise unbeachtet ist.“
Die Suche danach kann zäh und anstrengend sein. „Ich bin jemand, der eher langsam Entscheidungen trifft, es ist eher eine Entwicklung“, sagt Martin Korzeczek. „So hat sich meine Überzeugung verfestigt, dass ich Problemen nicht ausweichen will, selbst wenn sie für eine Person zu groß sind. Dann müssen wir sie eben zusammen in den Blick nehmen und bearbeiten!“