Daniela Seiberle litt seit ihrer Jugend an Angstzuständen. Ständig fürchtete sie die nächste Panikattacke. Eine Weltreise half der 36-Jährigen aus der Panik-Spirale. Von einer „Selbstkonfrontation auf allen Ebenen“, spricht eine Psychologin.
Der Himmel ist strahlend blau, das türkisblaue Meer funkelt am Horizont. Barfuß wirbelt Daniela Seiberle (36) über den weißen Sand. Ihre Lippen bewegen sich still zum spanischen Gesang. Ein muskulöser Mexikaner – ganz cool mit Sonnenbrille – führt sie tanzend durch die rhythmischen Trommelklänge. Die beiden blicken sich tief in die Augen. „Bachata im Paradies“ steht unter Seiberles Instagram-Post, der im Frühjahr 2025 an der Playa Delfines in Cancun (Mexiko) entstanden ist. Seit 2019 zählt Bachata, Tanz- und Musikrichtung, zum immateriellen Kulturerbe der Karibik – „und ungefähr genauso lange bin ich dem lateinamerikanischen Lebensgefühl verfallen“, sagt die 36-Jährige lächelnd im Zoom-Video-Interview.
Sie schluckt und sagt: „Dass ich mal solche Glücksgefühle spüren könnte, war für mich mehr als zehn Jahre undenkbar!“ Daniela Seiberle ist in Lauchringen aufgewachsen – einem 8000-Seelen-Ort in Südbaden. Etwa 14 Jahre alt war sie, als sie zum ersten Mal eine Panikattacke hatte: Herzrasen, Schweißausbrüche, Atemnot – im schlimmsten Fall bis hin zum Kreislaufkollaps.
Das wiederholt sich in den folgenden zehn Jahren hunderte Male, in schlimmen Wochen vier bis fünf Mal. „Es passierte in der Warteschlange in der Bank, mitten im Supermarkt, beim Spazierengehen, wenn mir ein Hund entgegenkam. Irgendwann konnte ich das Haus nicht mehr verlassen, weil ich ständig Angst vor der nächsten Attacke hatte – und vor allem davor, schwer krank zu sein und zu sterben“, sagt sie. Verzweifelt sucht sie damals bei Ärzten Hilfe. Doch weder Allgemeinmediziner noch Kardiologen oder Neurologen finden eine körperliche Ursache.
Bis zur Diagnose dauert es oft Jahre
Angststörungen sind laut der Stiftung Gesundheitswissen weit verbreitet: 21 Prozent der Frauen und neun Prozent der Männer in Deutschland leiden demnach unter Phobien oder einer gestörten Angstwahrnehmung. Panikattacken, also Angstanfälle ohne konkreten Auslöser, sind etwas seltener (drei Prozent der Frauen und ein Prozent der Männer sind betroffen). Das Problem: Weil oft zunächst körperliche Ursachen ausgeschlossen werden müssen, dauert es bis zur Diagnose oft viele Jahre.

So war es auch bei Daniela Seiberle. Als sie 18 Jahre alt ist, mitten in der Abschlussprüfungsphase zur Mittleren Reife, stirbt ihr Vater nach einem zweijährigen Kampf gegen den Darmkrebs. „Meine Welt geriet total ins Wanken. Danach wurde es noch schlimmer“, erinnert sie sich. Um die Trauer zu verarbeiten, besucht Daniela Seiberle auf Wunsch ihrer Mutter hin erst 2012 erstmals einen Psychologen. Und endlich macht es Klick: „Er hat sofort erkannt, dass ich an Panikattacken und Angstzuständen leide“, erinnert sie sich und schüttelt energisch mit dem Kopf, „das war eine Riesenerleichterung, weil ich endlich verstanden habe, was mit mir los ist!“
In Dutzenden Gesprächen arbeitet sie damals ihre verpasste Jugend, den frühen Verlust und die angsterfüllten Situationen auf. „Dann habe ich endlich verstanden, dass meine negativen Gedanken und meine Angst vor der Angst diese körperlichen Symptome auslösen!“ Die Attacken werden seltener, reduzieren sich etwa auf zwei pro Monat. Und sie trifft eine Entscheidung, die niemand in ihrem Umfeld je für möglich gehalten hätte: „Ich mache eine Weltreise!“ Die vielen Jahre der verpassten Jugend nachholen, sich auf positive Gedanken bringen – das ist ihr Antrieb, ihre Motivation.
2016 kündigt Daniela Seiberle Wohnung und sichere Festanstellung als Industriekauffrau – und fährt direkt nach Weihnachten mit ihrem pickepacke vollen Rucksack zum Flughafen Zürich. Sie freut sich auf Silvester zwischen Wolkenkratzern in Singapur, auf Kängurus in freier Wildbahn in Australien. Doch in der Warteschlange zum Check-In rollt plötzlich wieder eine Panikwelle auf sie zu: Herzrasen, glühende Wangen, ein Kribbeln im Kopf, dass ihr schwindelig wird. Zweifel, Versagensängste und die Angst vor der Angst schießen ihr unentwegt durch den Kopf. „Fast wäre ich einfach wieder mit meiner Familie nach Hause gefahren“, gibt sie zu, „zurück in mein sicheres Kinderzimmer.“ Aber sie atmet tief durch und steigt in den Flieger.
Christina Miro (33) aus Berne in Niedersachsen ist als Psychologin auf Reisethemen spezialisiert. Sie begleitet Weltenbummler und Expats in ihrer Online-Praxis. „Reisen verbinden wir generell mit positiven Emotionen, wir stellen uns selbst als glücklich und entspannt vor, haben erlebnisreiche, bunte Wohlfühlbilder im Kopf“, sagt die Expertin. „Diese Vorfreude sorgt nicht nur nachweislich für eine Glückshormon-Ausschüttung, sie hat auch eine ungeheure Macht zur Motivation, Pläne durchzuziehen.“
Das gilt auch für Daniela Seiberle. Auch wenn der Anfang ganz und gar nicht leicht ist, hält sie an ihrem Ziel fest: Sie durchreist Outback und Eukalyptuswälder in Australien, sieht Koalas, brettert steile Sanddünnen mit dem Snowboard hinunter in Neuseeland und bestaunt wilde Elefanten und Dschungeltempel in Sri Lanka. „Ich war oft komplett überfordert“, gibt Daniela Seiberle zu, „hatte Angst auf fremde Menschen zuzugehen, Verkehrsanbindungen zu verpassen – dachte immer wieder: Ich schaffe das nicht!“

Die Panikattacken kommen noch vor, rücken aber zunehmend in den Hintergrund. „Ich hatte ja keine Wahl, war auf mich alleine gestellt, musste weitermachen!“ Sie reist weiter, besteigt Vulkane in Indonesien, spürt die sprühenden Wassertropfen in der Luft der gewaltigen Iguazú-Wasserfälle in Brasilien. Insgesamt lässt sie sich 13 Monate relativ planlos durch zwölf Länder auf vier Kontinenten treiben. Die ganze Zeit schläft sie in einfachen Hostel-Schlafsälen, fährt mit öffentlichen Bussen und Zügen, muss sich mit ihren anfangs unsicheren Englisch- und Spanischkenntnissen von A nach B kämpfen. „Ich wurde immer selbstsicherer, hatte endlich das Gefühl mein Leben wieder selbst in der Hand zu haben und wusste irgendwann: Ich bin viel stärker als ich dachte, kann alles schaffen!“ Nach der Reise, sagt sie, habe sie sich gefühlt wie ein Schmetterling: „was ich in mir getragen habe, ohne es zu leben, ist auf der Reise rausgekommen!“
„Komfortzone Stück für Stück erweitern“
Als eine „Selbstkonfrontation auf allen Ebenen“ beschreibt Reisepsychologin Christina Miro Daniela Seiberles Weltreise. „Sich all diesen Herausforderungen alleine zu stellen, täglich Entscheidungen zu treffen und seine Komfortzone Stück für Stück zu erweitern, schafft positive und korrigierende Erfahrungen“, sagt die psychologische Psychotherapeutin, „ob Begegnungen mit fremden Menschen, Straßenhunden oder der eigene Umgang mit der Angst – gewohnte Erfahrungen werden neu erlebt, neu gemeistert und mit neuen, positiven Emotionen im Gehirn abgespeichert.“ Im Idealfall führe das zur tiefen Erkenntnis, dass die Angst all die Jahre gar nicht notwendig war.
Alles Geschaffte, Erreichte und Erlebte gebe Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und das Gefühl von Selbstermächtigung. Hinzu kämen alle Annehmlichkeiten, die selbst Kurzreisen mit sich brächte: „Wir bewegen uns viel mehr, verbringen mehr Zeit draußen in der Natur, entdecken neue Kulturen, Tiere, Landschaften und Geschmäcker – nehmen all diese Eindrücke jenseits des Alltages und jenseits von gesellschaftlichen Erwartungen und To-Do-Listen intensiver wahr“, sagt Miro. „Das katapultiert uns raus aus der negativen Gedankenspirale, baut Stress ab und hat tatsächlich die Macht, die Seele zu heilen.“ Aber laut der Psychologin sei eine Weltreise natürlich nicht für jeden das geeignete Mittel: „Wichtig ist, dass jeder Mensch für sich auch im Alltag Momente schafft, in denen er sich selbst herausfordert – das schafft erfüllende Abwechslung uns lässt uns stetig wachsen!“

Beflügelt von den 21.000 Instagram-Followern (@neleworld.de), die ihre Reiseberichte begeistert haben, hat Daniela Seiberle nach ihrer Rückkehr nach Deutschland nicht nur ein Buch geschrieben („Einmal um die Welt zu mir selbst“, 2018), sondern sich auch als Social-Media-Beraterin selbstständig gemacht. „So leben, wie es mir guttut – egal was andere für normal oder richtig halten – das mache ich seither.“
Und heute? „Bin ich aus Deutschland abgemeldet und arbeite als digitale Nomadin gerade da, wo mein Herz mich hinführt“, sagt sie lächelnd. Sie arbeitet als Social-Media-Beraterin, erstellt für Firmen Videos, Fotos, Textbeiträge, Produktbeschreibungen. Außerdem gibt sie Online-Workshops, die ihre Kunden fit im Umgang mit Social Media machen sollen. Die Wintermonate verbringt sie in Lateinamerika – macht Palmenstrände und Dschungelcafés zu ihrem Homeoffice, tanzt in der Freizeit Bachata, bricht auf zu Wanderungen. Im europäischen Sommer reist sie durch Italien, Frankreich, Deutschland oder Portugal. „Ich bin seit sechs Jahren komplett Panikattacken frei“, sagt die Weltenbummlerin. „Diese große Reise hat mir gezeigt, wie schön die Welt und wie gestalterisch ich selbst sein kann. Sie hat meine Seele geheilt und ich bin mir selbst unglaublich dankbar, dass ich es durchgezogen habe!“