Pflegeheimen: Das quälende Warten auf die Sozialhilfe

Wer im Pflegeheim lebt, zahlt oft derart hohe Kosten, dass die Rente nicht ausreicht. Foto: Adobe Stock / japolia Wer im Pflegeheim lebt, zahlt oft derart hohe Kosten, dass die Rente nicht ausreicht. Foto: Adobe Stock / japolia

Viele Pflegebedürftige können die Kosten von Seniorenheimen nicht aufbringen. Und die Sozialämter zahlen oft erst nach langer und aufwendiger Prüfung. So auch im Fall einer 73-Jährigen, die beinahe ihren Heimplatz in Spiegelberg verloren hätte.

Heidemarie leidet seit Jahren unter Demenz. Ihr entfallen Namen von Angehörigen, sie sucht quälend nach Worten, sie vergisst, wo sie Briefe, Unterlagen, Dokumente aufbewahrt hat. Die 73-Jährige lebt im Spiegelhof in Spiegelberg, einem auf Demenz spezialisierten Pflegeheim. Ihr echter Name ist der Redaktion bekannt, soll hier aber nicht genannt werden.

Dass sich Heidemarie selbst um ihre Korrespondenz mit Behörden kümmert, die Anlagen offizieller Dokumente ausfüllt, ist nicht vorstellbar. Das übernimmt ihre gesetzliche Betreuerin Sonja Packe. Sie schildert Heidemaries verzweifelte Situation: Mehrere 10 000 Euro Schulden haben sich inzwischen beim Heimbetreiber angehäuft, weil Rente und Vermögen nicht ausreichen, um die monatlichen Kosten von rund 3000 Euro zu begleichen. Derzeit übernimmt der Spiegelhof die ausstehenden Zahlungen und geht in Vorleistung. Doch die Mittel des Heims sind begrenzt.

Im Juli wollte der Geschäftsführer Alexander Flint deshalb ein drastisches Zeichen setzen. Es ging um einen anderen Bewohner – mit dem gleichen Problem: Seit zwölf Monaten lag dessen Antrag auf „Hilfe zur Pflege“ unbearbeitet beim Sozialamt. Aus der Not machte Flint eine PR-Aktion im Sinne der Sache: „Wir haben gesagt, wir übergeben dem zuständigen Landratsamt symbolisch den Koffer des Bewohners und seine Unterlagen, um die Dramatik der Lage zu verbildlichen.“

Pflege: Quälendes Warten auf Leistung „Hilfe zur Pflege“

Im Juli dieses Jahres setzte er diesen Plan schließlich um. Der Auftritt zeigte Wirkung: „Die Kostenübernahme durch das Sozialamt kam noch im Laufe der Woche.“ Wer mit Alexander Flint über die Aktion spricht, merkt schnell: Hier spricht niemand, dem es allein um den eigenen Vorteil geht. Eher glich die Aktion einem Hilferuf.

„Es ist für mich als Betreiber ein absolutes No-Go, an der Eingangstür eine Art Triage zu machen. Aber wir müssen die Miete für unsere zwei Häuser mit insgesamt 42 Plätzen bezahlen, müssen die Stromrechnungen begleichen und Lebensmittel einkaufen“, sagt er. Die Heimkosten liegen pro Bewohner zwischen 2240 und 3480 Euro monatlich – je nach Pflegegrad.

In einem halben Dutzend Fälle fehle die Kostenübernahme durch die Behörden. Rund 245 000 Euro muss das Seniorenheim nach eigenen Angaben momentan selbst auslegen. „In Zukunft bekommen wir das nicht mehr gestemmt, einen weiteren Fall kann ich mir nicht mehr leisten“, sagt Flint. Ein Dilemma: Entweder die betroffenen Pflegebedürftigen müssen das Heim verlassen oder kleine Heime wie der Spiegelhof schlittern in die Zahlungsunfähigkeit.

Das Problem betrifft Senioren und deren Angehörige in allen Regionen des Landes. Laut einer bundesweiten Umfrage des Verbandes katholischer Altenhilfe in Deutschland (VKAD) und des Deutschen Evangelischen Verbandes für Altenarbeit und Pflege (DEVAP) beantragen 43 Prozent der Bewohner von Pflegeheimen Sozialhilfe. In der Theorie schießt das Sozialamt den fehlenden Betrag bis zur Deckung der Pflegekosten hinzu. In der Praxis scheitern Anträge oft daran, dass Angehörige oder Betreuer der Pflegebedürftigen von Amts wegen aufgefordert sind, Dokumente und Nachweise zu erbringen, deren Suche in vielen Fällen einer äußerst frustrierenden Odyssee gleicht. Manchmal endet diese Reise damit, dass der Heimbetreiber droht, den Pflegebedürftigen schlichtweg vor die Tür zu setzen.

Auch Heidemarie drohte dies. Ihr Fall steht exemplarisch dafür, wie kompliziert die Dinge manchmal liegen können. Als Heidemaries Ehemann vor zwei Jahren starb, habe sich der Stiefsohn beim Heim gemeldet, erzählt die Betreuerin Sonja Packe. Er habe behauptet, eine Generalvollmacht zu besitzen, um die finanziellen Angelegenheiten zu regeln. Doch auf wiederholte Nachfrage habe er diese nicht vorlegen können. So beauftragte das Betreuungsgericht im Juni 2023 Sonja Packe mit dem Fall. Zu diesem Zeitpunkt, sagt sie, seien schon erhebliche Schulden vorgelegen.

Nach ihren ersten Recherchen wurde klar: Heidemarie verfügt über einen Nießbrauch ihres alten Wohnhauses. Der Eigentümer ist ihr leiblicher Sohn, der allerdings wie vom Erdboden verschluckt scheint und „unbekannt verzogen“ ist. „Das Sozialamt fordert verständlicherweise den Notarvertrag über das Nießbrauchsrecht des Eigenheims“, sagt Sonja Packe. Doch auch Versuche, über das Grundbuchamt an das Schriftstück zu kommen, führten nicht zum Erfolg.

Außerdem will die Behörde einen Nachweis über eine Witwenrente, die Heidemarie nach dem Tod ihres Mannes bekommen müsste. „Meine Mandantin bezieht aber gar keine Witwenrente. In dem Fall bräuchte die Rentenversicherung die Geburtsurkunde eines Kindes meiner Betreuten, die ist aber ebenfalls nicht vorhanden.“ Außerdem erfuhr Sonja Packe, dass Heidemarie gemeinsam mit ihrem verstorbenen Mann ein Ferienhaus gehört haben soll. „Wahrscheinlich ist, dass das Haus wegen ausstehender Hypothekenraten zwangsversteigert wurde. Möglicherweise belastet das Ganze die Erbengemeinschaft, bestehend aus Heidemarie und ihrem Stiefsohn, dessen Vater das Ferienhaus ja mitgehörte.“ Packe ist verpflichtet, jedweden Schaden von ihrer Klientin abzuwenden. Sie entschließt sich, eine Erbausschlagung am Gericht zu beantragen. Die Entscheidung steht noch aus.

Mit Pflegegrad vier fehlen knapp 2000 Euro

Abgesehen von diesen Ungereimtheiten lässt sich mit Sicherheit sagen: Heidemarie hat Pflegegrad vier, die Pflegeversicherung zahlt ihr einen Pauschalbetrag von 1855 Euro. Zusätzlich bekommt sie von der Versicherung einen gestaffelten Leistungszuschlag: Im ersten Jahr des Heimaufenthalts sind das 15 Prozent des restlichen Eigenanteils, im zweiten Jahr 30 Prozent, im Jahr darauf 40 Prozent und ab dem vierten Jahr im Heim 75 Prozent.

Obwohl Heidemarie seit drei Jahren im Spiegelhof lebt und somit ein Teil des Eigenanteils übernommen wird, fehlen jeden Monat knapp 2000 Euro. Die Schulden hätten sich gehäuft und in diesem Frühjahr auf beinahe 70 000 Euro summiert, rechnet Sonja Packe vor.

Wegen der unbezahlten Heimkosten kündigte der Heimbetreiber damals ihren Platz im Wohnheim. Eine Räumungsklage wurde erhoben. Schließlich gab es im April einen Termin vor dem Landgericht Stuttgart, in dem es um den Streitwert von mehreren Zehntausend Euro ging.

Der Heimbetreiber und Sonja Packe einigten sich auf einen Vergleich: Heidemarie verpflichtete sich, 40 000 Euro bis Ende 2025 aufzubringen und konnte im Gegenzug im Heim wohnen bleiben. Schließlich bewegte sich auch das Sozialamt. Nach zwei Jahren zahlte das Amt die laufenden Kosten, die für das Pflegeheim fehlten. „Wegen der nicht unerheblichen bereits angefallenen Heimkosten haben wir derzeit noch eine Sozialrechtlerin beauftragt“, sagt Sonja Packe. „Nun geht es noch darum, dass auch die rückständigen Kosten übernommen werden.“ Packe kritisiert: „Warum die Sozialämter nicht in Vorleistung gehen, zumindest vorübergehend die Kosten im Wege des Aufwendungsersatz übernehmen und sich diese direkt etwa von der Rentenkasse zurückerstatten lassen können, erschließt sich mir nicht.“

Mit dem konkreten Fall konfrontiert, heißt es seitens des Amts für Soziales und Teilhabe des Landratsamtes Rems-Murr-Kreis: „Aus datenschutzrechtlichen Gründen können wir uns in unserer Antwort nicht auf einen konkreten Fall beziehen.“ Die Behörde hebt die Mitwirkungspflichten des Antragsstellenden hervor, die als „zentraler Bestandteil des Sozialleistungsrechts sicherstellen, dass Leistungen nur an diejenigen Personen gewährt werden, die einen begründeten Anspruch haben“.

Besonders wichtig, heißt es in dem Antwortschreiben der Behörde, seien hierbei vollständige Angaben zu den wirtschaftlichen Verhältnissen – einschließlich Einkommen sowie Bar- und Grundvermögen im In- und Ausland. „Die Praxis zeigt, dass dieser Prozess oft zeitintensiv ist, da Unterlagen häufig unvollständig eingereicht werden und nachgefordert werden müssen.“ Und weiter: Längere Bearbeitungszeiten seien daher oft nicht dem Leistungsträger anzulasten, sondern resultieren aus der Komplexität der individuellen Fälle und der Notwendigkeit vollständiger Informationen. „Ohne ausreichende Mitwirkung der Antragstellenden kann keine Entscheidung getroffen werden, was im Extremfall zur Versagung der Leistungen führen kann.“

Dass es aufgrund dieser „Extremfälle“ immer mehr Beratungsbedarf gibt, weiß Markus Sutorius vom BIVA Pflegeschutzbund zu berichten. Er ist einer von drei Juristen bei dem gemeinnützigen Verein, die pro Jahr rund 4000 Beratungsgespräche führen. „Die Antragstellung ist teilweise hochkomplex. Sehr kompliziert ist häufig der Nachweis des Vermögens – und dass man dieses nicht verschwendet“, sagt Sutorius. „Da müssen zum Beispiel für die letzten zehn Jahre die Kontoauszüge beigebracht werden.“

Seiner Erfahrung nach sind 50 Prozent der Antragsteller mit den komplexen Anforderungen überfordert. Gleichzeitig sei die Bearbeitungsdauer in den Sozialämtern massiv gestiegen. „Dass ein Antrag ein Jahr oder länger dauert, kannte man früher nur aus Großstädten. Heute passiert das auch in kleineren Gemeinden.“ Der Personalmangel in Sozialämtern trifft auf eine steigende Zahl von komplexen Anträgen, die mit dem wachsenden Anteil der älter werdenden Bevölkerung künftig weiter ansteigen dürfte.

Der Fall von Heidemarie ist ein extremes Beispiel, das sagt auch Sonja Packe. „Aber es ist eigentlich unfassbar, dass hilfsbedürftige Menschen am Ende ihres Lebens sich derart verschulden müssen – und im Stich gelassen werden.“

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