Magersucht und Bulimie: Neue Therapie lässt Betroffene hoffen

Magersucht und Bulimie: Vor allem Jugendliche sind betroffen. Foto: Adobe Stock / Ralf Geithe Magersucht und Bulimie: Vor allem Jugendliche sind betroffen. Foto: Adobe Stock / Ralf Geithe

Magersucht, Bulimie, Binge Eating: Rund eine halbe Million Deutsche leiden unter einer schweren Essstörung, darunter viele Jugendliche. Eltern dürfen ihre Kinder oft über Wochen hinweg nicht sehen. Ein neuer Therapieansatz setzt dagegen auf die aktive Einbindung der Familie.

München. Wann genau sich die Krankheit ins Leben von Susanne Hartmann (alle Namen der Familie geändert) einschlich, lässt sich auch im Rückblick schwer nachvollziehen. Mit 13 Jahren steckt sie mitten in der Pubertät, schlechte Laune und Verhaltensänderungen gehören dazu wie Wachstumsschübe und Augenrollen. In diese Zeit fällt die Diagnose, deren Dimensionen die Familie erst nach und nach versteht. „Es ging ganz schnell bergab“, erinnert sich Mutter Stefanie.

Magersucht heißt, nicht mehr essen zu wollen – bis zur totalen Erschöpfung des Körpers. Der Aufenthalt in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Erlangen, einer der wenigen spezialisierten Einrichtungen in Deutschland, bringt zunächst Erleichterung. „Rückblickend betrachtet war die Klinik für Susanne lebensrettend“, sagt Stefanie Hartmann. Doch je länger der Aufenthalt dauert, desto mehr wird er zur Zerreißprobe für alle. Über Wochen hinweg ist der Kontakt zu ihrer 13-jährigen Tochter abgeschnitten. Es ist ein Auf und Ab. Hoffnungen folgen auf Rückschläge, Entlassungen enden in erneuten Klinikaufenthalten. Sechs Monate geht das so.

Magersucht, Bulimie: Die Eltern werden zu Co-Therapeuten

Als sich Susannes Zustand in der Klinik erneut rapide verschlechtert, stößt Vater Stefan bei der Recherche im Internet auf eine Therapieform, die in den USA, England, Kanada und Australien schon seit mehr als zwei Jahrzehnten bewährte Praxis ist: die sogenannte ambulante, familienbasierte Therapie für Kinder und Jugendliche mit Essstörungen, kurz: FBT.

Es ist eine in Deutschland noch recht unbekannte Therapieform. „Dieses Konzept bindet die Eltern intensiv in die Gewichtszunahme ihrer Kinder ein“, erklärt Prof. Dr. Gerd Schulte-Körne, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Münchner LMU Klinikum (siehe auch Interview) . „Die Grundannahme dabei ist: Die Eltern konnten ihr Kind vor der Erkrankung ernähren – und können es auch während der Magersucht. In der ersten Behandlungsphase übernehmen sie eine Co-Therapeuten-Rolle, werden angeleitet, die Portionen zu bestimmen und das Kind während der Mahlzeiten zu begleiten.“ Ein Paradigmenwechsel: FBT sieht die Familie nicht als Teil des Problems, sondern als wichtigen Teil der Lösung.

Das Ehepaar Hartmann ist sich schnell einig: Sie wollen dieses Prinzip zu Hause ausprobieren. Mit viel Geduld, Zureden, Zuhören und Empathie, begleitet von Psychotherapeuten, nehmen sie täglich fünf Mahlzeiten mit ihrer kranken Tochter ein. Immer ist ein Elternteil anwesend, während der Rest der Familie woanders isst. Als gutes Zureden nicht mehr reicht, wird der Platz mit einem Bildschirm ausgestattet. Ablenkung beim Essen – durch Filme, Serien oder YouTube-Clips, Musikhören oder Kartenspiele – hilft Susanne, die Mahlzeiten überhaupt zu sich zu nehmen. „Das klingt anstrengend – und das ist es auch“, sagt die Mutter. „Die Bekämpfung einer Essstörung ist kein Sprint, das ist ein Marathon.“

Über viele Wochen müssen die fünf Mahlzeiten penibel eingehalten werden. Es gibt regelmäßige Gewichtskontrollen und medizinische Untersuchungen. Außerdem erhalten die Eltern wöchentliche Unterstützung von FBT-Therapeuten, damit sie mental stark bleiben und sich immer wieder vergewissern, dass es richtig ist, was sie tun.

Das Konzept wirkt. „Unsere Tochter hat langsam wieder normal gegessen, ihr Körper hat sich – mit vielen Auf und Abs – Stück für Stück erholt“, erzählt Stefanie Hartmann. Nach und nach kehrt auch die Lebensfreude zurück. Bei Susanne selbst wächst der Wunsch, wirklich gesund zu werden.

Fast 50 Prozent mehr Fälle von Magersucht

Laut der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) gibt es immer mehr Fälle von Magersucht, Bulimie und sogenanntem Binge Eating, also exzessivem Essen: 2023 litten fast 460 000 Deutsche unter einer ärztlich diagnostizierten Essstörung, 7,5 Prozent davon waren Mädchen zwischen 12 und 17 Jahren. Im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 und dem Auswertungsjahr 2023 sind das fast 50 Prozent mehr. In keiner anderen Alters- und Geschlechtergruppe war der Anstieg derart groß.

Als Hauptgrund nennt die KKH die „boomende Selbstoptimierungs-Szene und fragwürdige Ideale“ auf Social-Media-Plattformen wie TikTok und YouTube. Dort verbreitete Videos und Anleitungen zum Perfekt-Sein könnten insbesondere bei Heranwachsenden zu einem verminderten Selbstwertgefühl und zu psychischen Erkrankungen wie Essstörungen führen. „In einer Lebensphase, in der die eigene Identität noch nicht gefestigt und das Selbstwertgefühl oft nur schwach ausgeprägt sind, können solche übersteigerten Ansprüche an das eigene Aussehen zu einer großen Belastung werden“, so KKH-Psychologin Franziska Klemm.

Zwar gibt es in München bereits vielfältige Behandlungs- und Reha-Angebote, aber der Bedarf ist groß, die Kapazitäten sind immer voll ausgeschöpft. Noch ist FBT keine anerkannte Kassenleistung. Kliniken in ganz Deutschland nehmen gerade an einer Studie der Charité Berlin Teil, um die Wirksamkeit von FBT zu erforschen. Das Münchner LMU Klinikum hat großes Interesse, an der Studie teilzunehmen. Eine solche Studie sei unerlässlich, sagt Schulte-Körne. Er freue sich, „unseren Patienten am LMU Klinikum diese Behandlungsoption zur Verfügung stellen zu können“. Die ersten LMU-Mitarbeiter wurden bereits Anfang 2023 in der Charité geschult.

Einige bayerische Kliniken, wie die KJF Klinik Josefinum in Augsburg und die Schön-Klinik Prien am Chiemsee haben bereits damit begonnen, die ersten Familien für die Behandlung innerhalb der Studie aufzunehmen, das LMU Klinikum München befindet sich noch in der Vorbereitungsphase. Schulte-Körne: „Wir mussten den Start der Studie verschieben, weil die Finanzierung noch ungeklärt ist.“ Man hoffe jedoch, im Herbst starten zu können.

Vielen jungen Erkrankten könnte es helfen. Die heute 16-jährige Susanne gilt im Moment als geheilt. „Wir wissen, dass wir unsere Tochter stets mit wachsamem Auge begleiten werden, denn diese Suchterkrankung kann zurückkehren, besonders im Erwachsenenalter“, sagt Mutter Stefanie. „Rückblickend hat sich die ganze Mühe gelohnt. Wir sind als Familie enger zusammengewachsen und haben viel über uns selbst und die Familie als solche gelernt.“

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