Tierärztinnen und Tierärzte sind durch aggressive Patienten und herausfordernde Aufgaben wie dem Einschläfern von Tieren einem hohen emotionalen Druck ausgesetzt. Studien kommen zu dem Ergebnis, dass sich kaum die Hälfte der Medizinerinnen und Mediziner wertgeschätzt fühlt und jeder Dritte sogar durch Depressionen selbstmordgefährdet ist. Frau Dr. Heidi Kübler, Präsidentin der Landestierärztekammer in Baden-Württemberg, spricht im Interview über Hass im Netz, irrsinnige bürokratische Verordnungen, ihre eigenen Erfahrungen mit Burnout und wie sie diese Lehren heute in Politik umsetzt.
Im Jahr 1988 haben Sie sich mit einer Tierarztpraxis selbstständig gemacht. Wenn Sie heute zurückdenken: Was war der größte Unterschied?
Ein entscheidender Punkt war, dass es noch keine Social-Media-Plattformen gab. Wenn Tierhalter nicht zufrieden waren mit der Praxis, haben sie es vielleicht in ihrem Bekanntenkreis weitererzählt, aber nicht mehr. Heute zieht das oft eine Flut an negativen Bewertungen bis hin zu Beleidigungen auf den Plattformen nach sich. Was dort und in Tierhalter-Foren derzeit passiert, grenzt an Rufmord. Vor allem: Wenn dort einmal etwas falsch dargestellt wurde, bekommt man es so leicht nicht wieder weg. Selbst ein Rechtsanwalt kann oft wenig ausrichten. Stellt man Dinge richtig, wird man womöglich noch als Lügner beschimpft. Viele Menschen hinterfragen die Dinge heute gar nicht mehr, sondern schimpfen einfach drauf los, anstatt erst einmal das Gespräch zu suchen. Da heißt es dann: „Zu dem Tierarzt kannst du garantiert nicht mehr hingehen.“ Und Tierärzte belasten solche negativen Posts nicht nur durch Verlust von Kunden, sondern auch psychisch. Man fühlt sich ausgeliefert und wehrlos.
Womit wird man noch konfrontiert?
Bei aufwendigen Untersuchungen kommt es zu Diskussionen über die Kosten. Vor allem dann, wenn Tierhalter nicht davon überzeugt sind, dass diese Untersuchungen notwendig sind. Da muss man sich ein dickes Fell zulegen. Ich habe es bei solchen Diskussionen mit derben Sprüchen auf den Punkt gebracht. Einmal kam eine Dame mit ihrer alten Katze, die nicht fressen wollte und abgenommen hatte. Ich wollte eine Blutuntersuchung durchführen, um die Ursache festzustellen. Die Frau sah das nicht ein und wollte, dass ich der Katze eine Spritze gebe, damit sie wieder frisst. Ich sagte: „In diesem Zustand kann ich zu ihrer Katze so viel sagen, als wenn ich einer Kuh in den Hintern langen würde. Dort ist es warm und dunkel.“ Das hat gewirkt.
Was macht das mit Ihnen?
Zunächst macht es mich wütend. Was viele Tierhalter nicht bedenken: Haustierhaltung kostet Geld. Jeder möchte ein süßes Streicheltier zu Hause haben, aber wenn es darum geht, Verantwortung zu übernehmen und die Kosten für Operationen und Behandlungen zu tragen, wird es oft schwierig. Vielen ist nicht klar, welche Lebenserwartung ein Hund oder eine Katze haben. Eine Katze kann durchaus 20 Jahre alt werden – in dieser Zeit kann eine Menge passieren.
Was gehört zu den größten Herausforderungen für eine Tierärztin?
Man sitzt schnell zwischen allen Stühlen: Einerseits gibt es den Tierschutz, der verlangt, dass jedes Tier, das eine behandelbare Krankheit hat, behandelt werden muss – unabhängig davon, ob der Tierhalter das überhaupt finanziell leisten kann. Andererseits hat die Tiermedizin in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Doch moderne Untersuchungs- und Behandlungsmethoden haben ihren Preis. Es gibt viele Tierhalter, die weder das Geld noch eine Tierkrankenversicherung haben, um das bezahlen zu können. Wenn sie dann von mir verlangen, ein Tier einzuschläfern, obwohl ihm noch geholfen werden kann, bringt mich das in einen schweren Gewissenskonflikt. Ich muss das ablehnen. Und dann bin ich den Augen des Tierhalters die böse Tierärztin, die Abzockerin, die mit dem kranken Tier nur noch viel Geld verdienen will. Das Dilemma: Wir Tierärztinnen und -ärzte dürfen keine Tiere einschläfern, denen geholfen werden kann. Eine Diskussion darüber, was das Minimum ist, was gemacht werden muss, und wo man die Grenze zieht, ist längst überfällig.
Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Einmal kam eine Frau mit ihrem Schäferhund in meine Praxis. Das Tier hatte eine Bauchspeicheldrüsenentzündung. Für Medikamente und spezielles Futter wären im Monat rund 200 Euro an Kosten angefallen. Daraufhin fragte mich die Frau ernsthaft: „Soll ich meinen Kindern nun nichts Warmes mehr kochen, damit ich das bezahlen kann?” Schon steht man in einem heftigen Gewissenskonflikt. In diesem Fall habe ich der Frau geraten, den Hund ins Tierheim zu bringen. Aber die Tierheime sind ja auch übervoll und haben kein Geld. Ich habe in früheren Jahren vermutlich einige Entscheidungen getroffen, die mir heute auf die Füße fallen würden. Aber was tun, wenn man davon ausgehen kann, dass ein Tier leiden wird, weil es die notwendigen Medikamente nicht erhält?
Wie haben Sie gelernt, mit dem Stress umzugehen?
In den ersten Jahren habe ich diese schweren Situationen und meine Entscheidungen fast immer mit in den Feierabend genommen. Dort habe ich wiederholt darüber nachgedacht, ob das, was ich gemacht hatte, auch wirklich die beste Lösung war und wie ich es möglicherweise hätte besser machen können. Und ich gebe zu, dass ich in den ersten Jahren manchmal auch weinend nach Hause gekommen bin. Vor den Tierhaltern habe ich mir das jedoch nie gestattet. Ich habe mir gesagt: Dort hast du professionell damit umzugehen, dort wird nicht geheult! Mit den Jahren wird man viel sicherer in seinen Entscheidungen, weiß mehr und hinterfragt nicht mehr so viel. Das hat mir zu einem gesunden emotionalen Abstand verholfen. Doch in der Mehrzahl der Fälle kann man seinen vierbeinigen Patienten zum Glück ja helfen und sie heilen. Sie dürfen dabei nicht vergessen: Meine Arbeit hat mir trotz aller Belastungen immer wahnsinnig viel Spaß gemacht und es gab auch viele schöne Momente. Mein Beruf war und ist Berufung für mich.
Im Jahr 2015 verkauften Sie trotzdem Ihre Praxis. Warum?
Ich hatte mir schon früh zum Ziel gesetzt, mit 50 Jahren nur noch das zu tun, was mir Spaß macht. Und dieser ganze Bürokram, der heute an einer Tierarztpraxis dranhängt, der gehörte definitiv nicht dazu. Seit Beginn meiner Praxistätigkeit hatte ich mich durch Fort- und Weiterbildung und Erwerb der Zusatzbezeichnung Biologische Tiermedizin immer mehr auf naturheilkundliche Behandlung von Tieren konzentriert. Naturheilkundliche Therapie für Tiere ist mir sehr wichtig. Seit Jahren bilde ich deshalb Tierärzte darin aus. Zudem bin ich seit vielen Jahren in der tierärztlichen Berufspolitik für die Naturheilverfahren aktiv. Ich arbeite also nicht weniger als in der Zeit als Praxisinhaberin, aber eben anders. Es macht mir immer noch Freude, meinen Patienten helfen zu können, doch war die Abgabe der Praxisleitung eine Erleichterung, denn auch mein Tag ist endlich. Heute arbeite ich noch in Teilzeit in einer Kleintierpraxis mit. Aber zurück zum Thema Bürokratie: In einem Zeitraum von 25 Jahren haben die Dokumentationspflichten dermaßen zugenommen, dass ich es keinem verdenken kann, wenn er nicht mehr selbständig, sondern lieber angestellt in einer großen Praxis arbeiten will.
Wie sehen diese genau aus?
Heutzutage verbringen niedergelassene Tierärzte rund ein Drittel ihrer Arbeitszeit im Büro, um sich mit einer Menge teils unsinniger Vorschriften herumzuschlagen. Wenn Sie in der Tierarztpraxis eine Leiter haben, müssen Sie einen „Leiterbeauftragten” ernennen, der sich regelmäßig um den ordnungsgemäßen Zustand dieses Geräts kümmert. Mitarbeiter müssen regelmäßig in Arbeitssicherheit, wegen Röntgen und noch vielem mehr geschult werden. All dies muss schriftlich nachgewiesen werden und kostet viel Zeit, die man durchaus besser nutzen könnte.
Studien kommen zu dem Schluss, dass Tierärzte sehr viel häufiger Suizidgedanken plagen, als die Gesamtbevölkerung. Erstaunt Sie das?
Dieses Thema wird in unserem Berufsstand schon seit mehreren Jahren intensiv diskutiert, deshalb haben mich diese Ergebnisse nicht wirklich erstaunt. In meinem Umfeld gab es unter Kollegen und ehemaligen Studienkollegen bereits mehrere Fälle von Tierärztinnen und -ärzten, die sich das Leben genommen haben.
Was waren das für Fälle?
Ich erinnere mich an den Fall einer Amtstierärztin aus Bad Mergentheim. Sie war Sachgebietsleiterin für Tierschutz. Eine ihrer Aufgaben war es, die Einhaltung von Tierschutzbestimmungen in der Landwirtschaft zu kontrollieren. Dieses Spannungsfeld zwischen dem Wohl der Tiere, Landwirten, die mit ihren Familien von ihren Produkten leben wollen und Verbrauchern, die nach billigen und sicheren Nahrungsmitteln verlangen, ist schwer auszuhalten. Sie wurde im Laufe der Jahre wegen ihres Einsatzes für den Tierschutz von vielen Seiten angefeindet und auch bedroht. Die notwendige politische Unterstützung erhielt sie nicht. Nach 20 Jahren im Beruf sah sie keinen anderen Ausweg mehr als sich umzubringen. Der Druck auf Tierärzte hat in den letzten Jahren enorm zugenommen – sowohl in den Praxen als auch in den Veterinärämtern.
Sind Sie im Laufe Ihrer langen Berufstätigkeit auch an diese Grenze gekommen?
Ja, aber die Gründe waren andere: Eine ehemalige Assistentin von mir hatte sich in der Nähe selbstständig gemacht, Patienten abgeworben und unter meinem Personal Unfrieden gestiftet. Das ist zwar über 20 Jahre her, hat mich damals aber psychisch an meine Grenzen gebracht. Ich habe mich aktiv um Hilfe bemüht. Die Krankenkasse empfahl einen Besuch beim Hausarzt, der mir eine Kur verschreiben sollte. Als ob man als Selbständiger mal schnell seine Praxis für mehrere Wochen schließen könnte! Die Berufsgenossenschaft empfahl mir, einen Kostenvoranschlag und Therapieplan von einem Psychologen einzuholen, dann würden sie prüfen, ob sie die Kosten dafür übernehmen. Wenn ich nicht auf eine private Einrichtung gestoßen wäre, die damals Leute aus dem Top-Management bei Burnout betreut hatte, wäre ich wahrscheinlich auch vor die Hunde gegangen. Dort erhielt ich Hilfe, ohne meine Praxis schließen zu müssen.
War der Verkauf Ihrer Praxis ein Befreiungsschlag?
Nein, es war eine logische Konsequenz, um mich auf andere mir wichtige Dinge konzentrieren zu können. Seit 1996 bin ich erste Vorsitzende der Gesellschaft für ganzheitliche Tiermedizin e.V. und setze mich für naturheilkundliche Therapien in der Tiermedizin ein. Seit 2001 bilde ich Tierärzte darin aus. Dann kamen noch weitere ehrenamtliche Tätigkeiten in der Berufspolitik dazu und seit 2023 bin ich nun Präsidentin der Landestierärztekammer.
Konnten Sie in dieser neuen Funktion politisch Einfluss auf die Situation der Tierärzte nehmen?
Es ist schon sehr viel wert, dass ich auf die heutigen Probleme aufmerksam machen kann, damit sie in Politik und Bevölkerung wahrgenommen werden. In der Tierärzteschaft werden derzeit Hilfsangebote geschaffen. Ich möchte, dass Kolleginnen und Kollegen, die psychisch belastet sind, heute nicht mehr lange nach Hilfsangeboten suchen müssen, wie ich damals, sondern dass sie gleich professionelle Hilfe finden. Seit Anfang Juni gibt es eine Telefonhotline für Tierärzte und Praxisangestellte, entstanden aus ehrenamtlichem Engagement. Von mehreren Anbietern gibt es inzwischen Supervisionen in Tierarztpraxen. Inzwischen finden Tierärzte auch Fortbildungen für Tierärzte zur mentalen Gesundheit. Die Fachgruppe „Junges Netzwerk“ im Bundesverband der Praktizierenden Tierärztinnen hat eine Task Force „Mentale Gesundheit“ ins Leben gerufen, die das Bewusstsein für mentale Gesundheit in der Tiermedizin stärkt. Ein sehr trauriges Kapitel ist die zunehmende Gewalt gegen Tierärzte – sowohl verbal als auch in Form von tätlichen Angriffen. Hier möchte ich erreichen, dass auch Tierärzte in der neuen Gesetzesvorlage, die die Bestrafung von Gewalt gegen Hilfskräfte zum Ziel hat, explizit genannt werden. Sie sind inzwischen genauso gefährdet wie Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten und andere Angehörige der Gesundheitsberufe.
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HINTERGRUNDINFORMATIONEN:
Dr. Heidi Kübler ist seit 1985 Tierärztin und eröffnete 1988 ihre Tierarztpraxis in Obersulm. Zunächst führte sie eine Gemischtpraxis mit ambulanter Schlachttier- und Fleischuntersuchung, seit 2001 ist es eine reine Kleintierpraxis. Über eine Weiterbildung erwarb sich Kübler die Zusatzbezeichnung Biologische Tiermedizin. Seit 1996 ist sie in zahlreichen Ehrenämtern tätig, u.a. ist sie Vorsitzende der Gesellschaft für Ganzheitliche Tiermedizin e.V. (GGTM), seit 2023 Präsidentin der Landestierärztekammer in Stuttgart, seit 2024 Schatzmeisterin des Bundesverbandes praktizierender Tierärzte. Aktuell arbeitet sie in einer Kleintierpraxis in Teilzeit mit, hält Vorträge über Naturheilkunde und Regulationsmedizin bei Kleintieren, ist oft zu Gast auf Kongressen und berät Tierärzte, Tierhalter und Apotheken zu naturheilkundlichen Fragestellungen im Tierbereich.
Im Land Baden-Württemberg gibt es derzeit 1.098 Tierärzte und Tierärztinnen in 804 Einzelpraxen, 287 Gemeinschaftspraxen, 9 Gruppenpraxen und 12 tierärztlichen Kliniken. Hinzu kommen 1.250 Praxisassistenten und Praxisassistentinnen. Zwei Drittel der Gesamtzahl der Beschäftigten sind weiblich, denn die Geschlechterverteilung hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Der Trend geht zu größeren Praxen mit mehreren angestellten Tierärztinnen und -ärzten – im Jahr 2024 waren es bereits mehr angestellte als niedergelassene Tierärzte.