„Schattenschicksale“: Die lange Suche nach dem leiblichen Vater

Einigen Kindern von Besatzungssoldaten wurde erzählt, ihre deutschen Väter wären im Krieg gefallen. Foto: Adobe Stock / Little Adventures Einigen Kindern von Besatzungssoldaten wurde erzählt, ihre deutschen Väter wären im Krieg gefallen. Foto: Adobe Stock / Little Adventures

Meggie Beck wuchs nach dem Zweiten Weltkrieg in Münsingen in Baden-Württemberg auf. Wenn sie nach ihrem Vater fragte, schwieg die Mutter nur. Erst mit 70 Jahren fand sie heraus, dass er französischer Soldat war.

Meggie Beck kann sich noch genau an den Moment erinnern, an dem sie eine Wahrheit erfuhr, die ihr Leben prägen sollte: Sie steht auf dem Gehweg in ihrer Heimatstadt Münsingen auf der Schwäbischen Alb und fragt ihre große Schwester, in welchem Jahr der Vater in Russland gefallen sei. Die Antwort: 1943.

Meggie ist mit ihren neun Jahren alt genug, um zu wissen, dass eine Schwangerschaft keinesfalls von 1943 bis August 1947 dauern konnte, dem Jahr ihrer Geburt. Bisher wurde ihr immer erzählt, dass der Vater ihrer Schwester auch ihr leiblicher Vater sei. Gefallen an der Ostfront, wie so viele andere Väter auch. Nun aber trifft sie die neue Erkenntnis wie ein Hieb. Den sie Vater nennt, ist gar nicht ihr Vater. Wer dann?

Mit der Aussage ihrer Schwester bestätigt sich das Gefühl, das sie schön lange begleitet: Mit ihr stimmt irgendwas nicht ganz. Diese seltsamen Blicke auf der Straße, damals in den 1950er Jahren. Dass manche Kinder nicht mit ihr spielen dürfen. Das Schweigen der Mutter, die emotionale Distanz zu ihrer Schwester. Einmal hat sie auf der Straße im Vorbeilaufen einen Satz aufgeschnappt: „Des isch a Franzeesle.“

Sie konnte lange Zeit nichts damit anfangen, bis sie schließlich verstand, was es mit diesen Worten auf sich hatte. Stückchenweise baute sie sich ihr Puzzle zusammen, während die Mutter weiter beharrlich schwieg. Wenn die Rede auf den Vater kam, wandte sich die Mutter gleich ab oder schimpfte mit der Tochter. Das Tabuthema Vater stand wie ein kalter Fels im Raum. „Ich war der Bastard der Schwäbischen Alb“, sagt MeggieBeck.

Die Mütter schwiegen oft bis in den Tod

Historiker schätzen die Zahl der Kinder, die aus Beziehungen von Besatzungssoldaten mit deutschen Frauen im ersten Nachkriegsjahrzehnt hervorgegangen sind, auf 200 000. Neue Studien gehen von doppelt so viel aus. Oft wurde den Kindern ein anderer – deutscher – Vater vor die Nase gesetzt.

Die Mütter schwiegen über Jahre, Jahrzehnte, oft bis zum Tod. Aus vielfältigen Gründen: Es gab Fälle, da waren die Frauen vergewaltigt worden und versuchten fortan, die Tat aus der Welt zu schweigen. Es gab auch die Scham, als liederlich zu gelten. Und die Angst vor Ausgrenzung. Doch spürten die meisten der betroffenen Kinder, dass etwas Dunkles im Raum war. Fühlten sich oft noch schuldig, der Anlass für irgendein unaussprechbares Geheimnis zu sein.

Tabuisierungen, Verheimlichungen, Lügen: „Die Besatzungskinder trugen vielfach ein doppeltes Stigma. Sie waren von unehelicher Geburt und dazu noch Kinder einer Beziehung mit dem ‚Feind’“, sagt die Historikerin Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung in Wien. Ein großer Teil dieser Kinder spüre die Folgen von Stigmatisierung und Ausgrenzung bis heute. Die gesellschaftliche Ächtung – oder zumindest die Angst davor – habe eine Vielzahl der Besatzungskinder geprägt. „Dies blieb besonders schmerzhaft, wenn wenig bis nichts von dem Vater bekannt ist“, sagt die Professorin für europäische Zeitgeschichte.

Meggie Beck. Foto: Privat
Meggie Beck. Foto: Privat

Meggie Beck begleitete die Sehnsucht nach dem unbekannten Vater ihr ganzes Leben. Erst im Alter von 70 Jahren kam sie dem Rätsel auf die Spur. Nach dem Tod der Mutter 1962, kurz nach Meggies 15. Geburtstag, fand sie eine alte Notfalltasche. Gepackt in Kriegszeiten für den Fall einer schnellen Flucht, gefüllt mit Dokumenten, Fotografien, Medikamenten. Ein paar Fotos darin zeigten einen Mann in Uniform. „Ja, das war der kleine Franzose“, kommentierte die ältere Schwester, die ihr Gedächtnis wiedergefunden zu haben schien.

Sie konnte sich daran erinnern, dass 1945 ein französischer Soldat in die Wohnung der Mutter einquartiert wurde, die Mutter hatte man zuvor aus dem Ruhrgebiet evakuiert. Ursprünglich gehörte die Münsinger Wohnung einem SS-Mann aus Ulm, der die Unterkunft nur gelegentlich für seine Jagdausflüge nutzte. Es war eine große Wohnung mit fünf Zimmern, Küche, Bad. Von 1945 bis 1949 teilten sich der französische Besatzungssoldat und die deutsche, alleinerziehende Witwe diese Wohnung.

Die Schwester erinnerte sich, dass er André hieß, in Frankreich verheiratet war und dort eine Tochter hatte. Im Jahr 1949 wurde er nach Frankreich zurückbeordert. Auf einmal war er verschwunden. Wie ein Geist. Er hat sich nie wieder gemeldet.

Bis heute ist da eine Wut in ihr

Heute ist Maggie Beck sicher, dass es ihr Vater war. „Er ging weg und kümmerte sich nicht mehr. Das ist mir unbegreiflich“, sagt die 78-Jährige. Er verließ nicht nur sie, sondern auch ihre Mutter, die nichts besaß und ihre zwei Töchter in unsicheren Zeiten durchbringen musste. Da ist bis heute eine Wut ihm gegenüber. Und viel Respekt für die Lebensleistung ihrer Mutter: „Ich glaube nicht, dass wir uns vorstellen können, wie es während des Krieges oder danach war, schwanger zu sein und ohne Ehemann ein Kind zu haben – gezeugt vom ,Feind’.“

In Deutschland galten Frauen, die nach dem Krieg eine Beziehung mit einem Besatzungssoldaten eingingen, als lasterhaft und moralisch verwerflich. „Liebe, Menschlichkeit, Sehnsucht nach Nähe und Zärtlichkeit nach all den überstandenen Schrecken, spielte in den Köpfen der Kleinbürger keine Rolle“, so schreibt Meggie Beckauf der Website von „Coeurs sans Frontières“ – Herzen ohne Grenzen. Ein Verein, der aus französischen und deutschen Nachkommen besteht, die diesseits und jenseits des Rheins nach ihren Eltern oder Großeltern suchen.

Die Justiz war zunächst auf der Seite der Väter. Bis 1949 galt das Gesetz des Alliierten Kontrollrates, das die Soldatenväter vor jeder Nachforschung schützte. Eine Klage auf Unterhalt war zwar möglich, aber durch diverse Klauseln kaum umsetzbar.

Auf der anderen Seite installierte die Militärregierung auf deutschem und französischem Boden eine Infrastruktur, um die Kinder aus Misch-Beziehungen zu finden und nach Frankreich zu vermitteln – zu „repatriieren“. Die Mütter mussten also fürchten, dass ihnen im Fall einer Vaterschaftsanerkennung aus Frankreich die Verschleppung des Kindes drohte. Vielleicht trugen all diese Vorgänge auch dazu bei, dass Meggies Vater schließlich spurlos verschwand und das Mädchen als ein nicht registriertes Besatzungskind bei ihrer Mutter aufwuchs.

2013 besuchte Meggie Beck, die inzwischen in Bonn lebte, mit einer Freundin die Hengstparade des Landesgestüts in Marbach. Danach spazierten sie noch durch Meggies Geburtsstadt Münsingen. Im Vorbeigehen fiel ihr ein Gebäude auf, das ihr irgendwie bekannt vorkam. Das musste das Haus sein, in dem sie als Kind gewohnt hatte.

Während sie davor standen, wurden sie von einer Frau angesprochen. Zufällig war sie eine Verwandte der früheren Vermieterin. Und so kam es zu einen Treffen mit der inzwischen 96-Jährigen, der zwar ein Bein fehlte, die aber doch überaus hell war im Kopf. Ihre Worte zur Begrüßung: „Sie säet aus wie ihr Vaddr.“ MeggieBeck brach in Tränen aus. Niemals zuvor hatte jemand ihren Vater in ihr gesehen. Die einstige Vermieterin erinnerte sich an jenen André als einen freundlichen Menschen, der immer liebevoll mit seiner Tochter umgegangen sei.

Die betagte Dame hatte sogar einen Brief der „Madame“, also der französischen Ehefrau, an André aufbewahrt. Er war aus dem Jahr 1949, beschriftet mit Absender und einer Adresse: „Endlich hatte ich den Nachnamen meines Vater herausgefunden. So ein Zufall und welch ein Glück“, erzählt Meggie Becküberschwänglich. Sie fuhr zu der Adresse in die französischen Alpen. Doch niemand dort kannte jenen Herrn. Auch im Rathaus, in der Gendarmerie, im Stadtarchiv konnte helfen. Später erfuhr Meggie, dass „Madame“ damals wohl nur einen Ausflug an den Ort gemacht hatte und deshalb niemand was mit dem Nachnamen anfangen konnte.

2015 hörte Meggie Beck an der Universität Köln einen Vortrag über Besatzungskinder, auch aus Norwegen oder Dänemark. Ihr wurde klar, dass sie nicht alleine ist. Während dieses Abends lernte sie die Professorin Elke Kleinau kennen, die Lebensläufe von Kriegskindern erforscht. Sie empfahl ihr „Cœurs sans Frontières“. Meggie Beck wurde Mitglied. Ein Foto aus 1947 wanderte in das „Gesucht“-Portal der Website. Es zeigt die Erstkommunion der älteren Schwester. Auch darauf zu sehen: die mit Meggie schwangere Mutter, ihr Vater mit seiner französischen Frau und deren gemeinsame, damals 17-jährige Tochter. Eine seltsame Szenerie.

Ein Jahr später meldete sich eine Frau, sie hatte die Ehefrau ihres Vaters auf dem Foto erkannt. Meggie Beckbekam eine Adresse und einen Namen. Vorsichtig nahm sie Kontakt zu ihrer neuen Halbschwester Georgette auf und besuchte sie dann auch in der Bourgogne. Die Begegnung verlief freundlich, doch Georgette litt an Demenz, hatte immer wieder Erinnerungslücken. An dem einen Tag erkannte sie ihre neue Halbschwester, am nächsten Tag wieder nicht.

Bei ihrem dritten Besuch wurde Meggie Beck von einer Nachbarin beschimpft und vom Hof gejagt. Georgette war kinderlos, besaß jedoch Land und Weinberge. Die Nachbarin und der Pächter der Weinberge bangten wohl um ihr Erbe, meint Meggie Beck: „Diese Menschen verstanden nicht, dass ich nur etwas über das Leben meinen Vaters wissen wollte. Ich bin leider zu spät gekommen. Georgettes Geist war schon zu verwirrt.“

Für Meggie Beck wirkte dieser Vorfall tief einschneidend. Wie eine zweite Ablehnung ihrer Existenz. Doch sie hatte das Grab ihres Vater André besucht und ein Foto von ihm bei Georgette abfotografiert. Nun steht es neben dem Foto ihrer Mutter. Sein verschmitzter Gesichtsausdruck gefällt ihr gut.

Ihre deutsche Halbschwester wandte sich in genau jenem Moment von ihr ab, als Meggie jene Georgette gefunden hatte: „Das heißt, ich habe jetzt zwei Schwestern – und gleichzeitig keine mehr“, sagte sie nur.

Inzwischen sieht Meggie Beck die Leute von „Cœurs sans Frontières“ als ihre Wahlverwandtschaft. Sie fühlt sich glücklich mit der Aufgabe, anderen ungewollten Kindern mit Recherche, Zuspruch und Trost bei der mühsamen Suche nach dem Vater helfen zu können. „Es ist uns allen ein unendliches Bedürfnis, nicht immer dieses Fragezeichen nach dem Vater mit sich herumzutragen. Sondern endlich komplett zu sein.“

Verbotene Beziehungen Meggie Becks Suche nach dem leiblichen Vater ist ein Teil des Sachbuchs „Schattenschicksale. Lebenswege der Kriegskinder aus verbotenen Beziehungen“ (224 Seiten, erschienen im Kösel Verlag, 22 Euro). (*Werbepartner) Darin werden fünf weitere Schicksale von Besatzungskindern geschildert.

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