Als Geschäftsführerin der Frankfurter Gesellschaft für Unternehmensgeschichte holt die Historikerin Dr. Andrea Schneider-Braunberger für ihre Auftraggeber Fakten aus dem „Dritten Reich“ ans Licht. Im Interview spricht sie über das gewandelte Bewusstsein zur Geschichte in den Firmen, Archive, in denen Geschichte von unbekannter Hand gelöscht wurde und warum gerade junge Menschen so viel Wert auf das Eingestehen von Fehlverhalten legen.
Frau Dr. Schneider-Braunberger, können Sie sich noch daran erinnern, wie Sie zum ersten Mal auf das Thema Nationalsozialismus stießen?
Ich sollte 1996 bei der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte ein Symposium veranstalten und sah mir die verschiedenen Themenangebote durch. Dabei fiel mir auf, dass der Nationalsozialismus fehlte. Deshalb setzte ich ihn auf die Liste. Zu dieser Zeit gab es lediglich verschiedene Studien, die sich mit dem Nationalsozialismus befassten, seit den achtziger Jahren erste professionelle historischen Aufarbeitung von Unternehmensgeschichten, etwa von Volkswagen, Daimler oder der Deutschen Bank. Man war in diesen Dingen in Deutschland am Anfang. Erst in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre kam es zu einer Welle von Aufarbeitungen, die bis heute anhält.
Wie begründen Sie diesen Wandel?
Die Einstellung der Firmen hat sich total verändert. Heute wird in vielen Unternehmen die Meinung vertreten, dass die Erforschung der Firmengeschichte im Dritten Reich zum ganzen Bild dazugehört. Es muss gemacht werden. Und es muss professionell gemacht werden.
Auch wenn es wehtut, wenn Fehlverhalten offenbar wird?
Wer zu uns kommt, hat ein großes Interesse an dem kritisch wissenschaftlichen Blick auf die eigene Firmengeschichte. Die Ergebnisse unserer Recherchen sind nicht einfach wegzustecken, gerade, wenn wir herausfinden, dass man doch in die eine oder andere Geschichte im Nationalsozialismus verstrickt war. Das kann bei Familienunternehmen sehr schmerzhaft sein.
Wie hoch ist heute der öffentliche Druck, problematische Jahre einer Firma zu beleuchten?
Er ist über den Lauf der Jahre gewachsen. Hinzu kommt eine gesellschaftliche Entwicklung. Die junge Generation der Schüler und Studierenden fordert heute viel stärker Wahrheiten beim Verhalten im Dritten Reich ein als früher. Sie verlangen Transparenz.
Bedeutet Aufarbeitung also eine Steigerung des Images?
Durchaus. Junge Leute sagen sich: Für ein Unternehmen, das offen zu seinen Fehlern steht, kann man sich vorstellen zu arbeiten.
Bei dem Bremer Spediteur Kühne und Nagel hat so eine Aufarbeitung nicht stattgefunden…
Das sieht man an den vielen Presseberichten, die immer wieder auf dieses Defizit hinweisen. Ein Beispiel: Wir haben die Geschichte von Hugo Boss aufgearbeitet und bis zur Veröffentlichung unserer Studie wurde dieses Defizit in der Öffentlichkeit durch die Presse immer wieder angemahnt. Das Unternehmen hatte eine kleine Zwangsarbeiter-Studie gemacht, doch das reichte der Öffentlichkeit nicht. Wenn man als Unternehmen nicht den Fokus auf problematische Jahre der Unternehmensgeschichte richtet, muss man damit rechnen, dass dies in den Medien immer wieder als Manko aufgegriffen wird.
Konnten sich unter Adolf Hitler überhaupt Unternehmen dem allgemeinen Druck entziehen, ohne Repression befürchten zu müssen?
Entziehen konnte man sich ab einem gewissen Punkt nicht mehr. Unternehmen, die während der Kriegsjahre in Branchen tätig waren, die nicht mittelbar für die Kriegswirtschaft arbeiteten, mussten schließen, weil Arbeitskräfte in andere Unternehmen versetzt wurden, die Räumlichkeiten beschlagnahmt worden sind. In den Jahren 1942 und 1943 brachen diese Unternehmen massiv ein.
Was waren Ihre prominentesten Veröffentlichungen?
Unsere Studie über die Firma Adidas wurde sehr oft erwähnt. Darüber hinaus gehörten unter anderen die Deutsche Bahn, E.ON, Hugo Boss, die Linde AG, die Sparda-Bank, Jägermeister und den BDI.
Wie begegnet man Ihnen bei Behörden und Stadtarchiven bei speziellen Nachfragen zur NS-Geschichte?
Mit großer Offenheit. Allerdings gibt es Archive, die gigantische Lücken aufweisen: Als wir in Oberndorf für die Firma Heckler & Koch die Vorgeschichte der dort ansässigen Waffenfabrik Mauser recherchierten, mussten wir feststellen, dass im Stadtarchiv beim dort archivierten “Schwarzwälder Boten” der Lokalteil Oberndorf für die NS-Zeit komplett herausgenommen wurde. Ebenso fehlen von 1935-1945 die kompletten Gemeinderatsprotokolle.
Wie kann das sein?
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden einige Archive komplett gefilzt. Da ist jemand durchgegangen und hat entschieden, was in den Abfalleimer wandert. Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg eine Phase, wo viele Menschen glaubten, der Kommune, dem Unternehmen, der Institution einen großen Gefallen zu tun, wenn sie diese Akten vernichten. Das ist unglaublich schade, wenn solche Bestände verloren gehen, denn damals wurde so gut wie alles schriftlich festgehalten, die Nazis waren die größten Bürokraten. An sich gab es da immer etwas zu finden.
Wie sind Sie in diesem konkreten Fall weiter vorgegangen?
Wir haben mit viel Mühe den Lokalteil Oberndorf aus dem “Schwarzwälder Boten” in der Staatsbibliothek in Stuttgart aufgetrieben. Was man allerdings nicht mehr finden wird, sind die Ratsprotokolle aus Oberndorf. Die sind unwiederbringlich verloren.
Welche Möglichkeiten gibt es für Sie als Historikerin, wenn Archive solche Lücken haben?
Die Waffenfabrik Mauser in Oberndorf wurde nach dem Zweiten Weltkrieg demontiert. Viele Mitarbeiter haben Akten mit nach Hause genommen und an Sammler verkauft. Es gibt eine große Community von Waffensammlern, die später Bestände aus Oberndorf aufgekauft haben. Deswegen mussten wir für die Erarbeitung dieser Studie mit ihnen in Kontakt treten, um an diese Originale zu kommen. Für die Forschung ist dies aber ein ganz unglücklicher Zustand, weil Bestände auseinandergerissen werden. Und dann muss natürlich überprüft werden, wie verlässlich das Dokument ist, das einem vorgelegt wird.
Mussten Sie dafür bezahlen?
Nein, so etwas machen wir nicht. Aber wir trafen auf viel Kooperation.
Gab es auch Studien, die aufgrund fehlender Quellen von Ihnen nicht durchgeführt werden konnten?
Ja, in Wuppertal. Dort ist man im Stadtarchiv wirklich sehr dramatisch betroffen, denn es fehlen sämtliche Akten, die den Nationalsozialismus betreffen, zwischen den Jahren 1930 und 1945, darüber hinaus bis zum Jahr 1950. Deshalb konnten wir bei einer Vorrecherche für die Universität Wuppertal zu einem Projekt keine Akten finden. Auch bei der Firma Rodenstock, reichte das vorhandene Material, das wir damals fanden, nicht für eine Studie. Dies sind die einzigen beiden Fälle, wo wir nicht weiterkamen. Kompliziert war es aber auch bei einer angedachten Biografie über Georg Karg. Auch hier sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass dies nicht möglich ist. Obwohl wir heute im Rahmen eines Projekts zur Geschichte des Hertie-Konzerns über 100 Archive durchforstet haben, fanden wir so gut wie kein persönliches Dokument, anhand dessen man eine Biografie schreiben konnte. Die Geschichte des Konzerns Hertie hingegen ist dagegen gut zu beschreiben.
Ist es ein Glücksgefühl, wenn Ihnen ein richtiger Fund gelingt und Sie dem Dunkel eine Geschichte entreißen?
Unbedingt. Man atmet schon erleichtert auf, wenn man das fehlende Puzzleteilchen findet und sich die Geschichte im Ganzen darstellen lässt. Aber dafür braucht es eine unendliche Geduld und großes Durchhaltevermögen.
Wie kann man sich das konkret vorstellen?
Wir konsultieren oft Kriegstagebücher der Wehrmacht. Dort gibt es keine Verzeichnisse, also muss man sie Seite für Seite durchgehen. Bei der Adidas-Studie war das damals die vorletzte Seite eines solchen Kriegstagebuchs. Die meisten hätten nach 500 Seiten aufgegeben, doch der entscheidende Hinweis auf das Verhalten im Dritten Reich stand dann sprichwörtlich auf Seite 505. Dieses Durchhaltevermögen muss man erst einmal haben. Das ist sicherlich sehr mühsam, schenkt einem aber am Ende einen großen Glücksmoment.
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