Gegen Widerstände steigt der Bäcker Michael Kress aus dem beruflichen Hamsterrad aus: Er erfindet sich neu, macht alles anders als früher – und wird schließlich Weltmeister der Brotsommeliers.
Stuttgart. Weinheim sieht fast zu idyllisch aus: ein Fachwerkkleinod, umrahmt von zwei mittelalterlichen Burgen. Die Stadt an der badischen Bergstraße war bisher vor allem durch die mörderischen Einfälle der Bestsellerautorin Ingrid Noll bekannt, die ihre Giftmorde am liebsten im Villenviertel rund um das historische Zentrum inszeniert. Nun hat Weinheim einen weiteren Einwohner zu bieten, der in seinem Fach brilliert – allerdings in einem ganz anderen Bereich: den Bäcker Michael Kress, der im Mai zum Weltmeister der Brotsommeliers gekürt wurde.
Dass der 49-Jährige gutes Brot backt, hat sich längst herumgesprochen. Schon bevor sein Geschäft um elf Uhr öffnet, hat sich eine Schlange bis zum Parkplatz gebildet. Junge Mütter mit Kinderwagen, Senioren und Berufstätige, die sich die Zeit mit dem Handy vertreiben, warten geduldig. Sie kommen aus Weinheim, aber auch aus den Nachbardörfern und sogar aus Mannheim und Heidelberg. Die Kenner bestellen per E-Mail vor, denn die Regale leeren sich schnell.
Die Edelbäckerei befindet sich im Gewerbegebiet zwischen zwei Supermärkten und einem Fitnessstudio. Obwohl sie erst vor zwei Jahren in einem historischen Gebäude mit den vier Meter hohen Wänden eröffnet hat, ist sie eine Institution. Der Chef Michael Kress, ausgebildeter Brotsommelier, kommt aus einer Weinheimer Bäckerdynastie, deren Stammhaus nur ein paar hundert Meter vom jetzigen Standort entfernt liegt. Dort gründet der Urgroßvater 1924 seinen Betrieb. Als zwei Jahre vor dem hundertsten Firmengeburtstag der Ofen für immer abgeschaltet wird, ist das Bedauern in der Stadt groß.

Weltmeister der Brotsommeliers: Sohn ist nicht wie sein Vater
Hinter den Kulissen köchelt jedoch schon lange ein Konflikt. Michael Kress ist nicht mehr bereit, wie die drei Generationen vor ihm sieben Tage die Woche für ein überbordendes Sortiment, das von Brot und Brötchen bis hin zu Pralinen und Eis reicht, zu schuften. Er möchte lieber eine kleine, feine Manufaktur gründen, wie sie in den Großstädten boomen. „Der alte Herr hatte andere Vorstellungen, und im Endeffekt haben wir uns nicht geeinigt“, fasst Kress den Familienzwist diplomatisch zusammen. Er lächelt fast jungenhaft. Wie einer, der mit dem Kopf durch die Wand geht, wirkt er nicht.
Bevor er aus dem alteingesessenen Betrieb aussteigt, wägt Kress ab. Dabei kommt es für ihn nie infrage, den Beruf ganz an den Nagel zu hängen. Dazu liebt er das Backen zu sehr. „Es ist ein Wahnsinnsgefühl, wenn du ein Brot in deinen Händen hältst, das noch warm ist und knistert“, schwärmt er.
Von klein auf spielt sich sein Leben zwischen Ofen und Teigknetern ab. „Wenn die Eltern im Handwerk selbstständig sind, verbringen sie dort die meiste Zeit“, sagt er. Damit er ihnen nah sein kann, hilft er schon als Kind eifrig mit. Er kann gerade über den Tisch gucken, als er seine ersten Brezeln formt und das Weihnachtsgebäck in flüssiger Schokolade badet. Später lässt er sich nicht nur zum Bäcker, sondern auch zum Konditor ausbilden und wird Betriebsleiter in einem klassischen Familienunternehmen. Unten befindet sich die Bäckerei, im ersten Stockwerk lebt Michael Kress mit seiner eigenen Familie und zeitweise auch der Oma und darüber die Eltern. „Wir haben zusammengewohnt und zusammengearbeitet. Alles hat sich um die Arbeit gedreht“, erinnert er sich.
Das Vorbild sind die Winzer
Harmonisch ist das nicht immer, zwischen den Generationen reißt eine Kluft ein. „Wenn man etwas verändern möchte und das unterdrückt wird, macht einen das nicht zufrieden“, deutet Kress an, wie belastend die Situation für ihn ist. Im Jahr 2020 dann der Schlüsselmoment: Kress meldet sich zur Ausbildung als Brotsommelier an. „Aus Neugierde wollte ich etwas Neues machen. Dass das so einen gravierenden Einfluss auf meine Zukunft haben würde, hätte ich mir nie träumen lassen“, sagt er rückblickend.
Die Zusatzqualifikation für Bäckermeister hat die Bundesakademie des Deutschen Brothandwerks 2015 entwickelt. Ein Erfolgsprojekt: Inzwischen sind dort rund 280 Brotsommeliers aus 14 Ländern ausgebildet worden. Vorbild waren die Winzer. „Wir haben gesehen, wie sie es geschafft haben, ihr Produkt aus dem Tal der Tränen zu holen. Ein Winzer beschreibt seinen Wein minutenlang, beim Brot heißt es nur, es schmeckt gut. Das wollten wir ändern“, sagt Bernd Kütscher, der ehemalige Direktor der Akademie und einer der Väter des zwölfmonatigen Ausbildungsgangs. Im Unterricht verfeinern die Teilnehmer ihre Geschmacksnerven und pauken Brot-Vokabular. Danach können sie beurteilen, ob Brot grasig riecht, eine feine Butternote hat oder nach Mokka schmeckt.
Mehr Zeit für die vier Kinder
Für Michael Kress führt der Kurs zu einem Sinneswandel: „Ich kam aus dem Tunnel heraus, in dem ich die ganzen Jahre gelebt habe. Ich habe neue Systeme und Kollegen kennengelernt und mir ein Netzwerk aufgebaut. Es war ein Riesen-Input.“
Doch von seinem Vater bekommt er wie immer keinen Zuspruch. „Die Ausbildung wurde belächelt und es wurde gesagt, dass ich dadurch kein besserer Bäcker werden würde“, bedauert Kress.
Er lässt sich nicht beirren. Die Seminare bestärken ihn darin, aus dem Hamsterrad auszubrechen. Im Juni 2022 schließt sein Vater die Familienbäckerei und Michael Kress legt eine Pause ein. „Ich hatte das erste Mal in meinem Leben Zeit zum Nachdenken.“ Endlich kann er sich auch wirklich um seine vier Kinder kümmern, der Jüngste ist damals noch nicht einmal ein Jahr.
Dann klingelt zwei Tage vor Weihnachten das Telefon: Ein befreundeter Architekt gibt ihm im Bescheid, dass er ein geeignetes Objekt für eine Bäckerei gefunden hat. Sieben Monate später wird Kress in der ehemaligen Brauerei aus rotem und gelbem Sandstein seinen neuen Betrieb eröffnen, den er „Brothandwerk“ nennt. „Ich möchte mit dem Namen klar machen, dass wir unser Produkt mit den Händen schaffen. Es ist auch eine Wertschätzung für unsere Tradition“, sagt er.
Er räumt gleich mit einigen Dogmen auf. Zum Beispiel, dass man als Bäcker mitten in der Nacht aufstehen muss. Kress und sein Team fangen erst um sechs Uhr mit dem Backen an. Die Vorteile: Die Mitarbeiter können Familie und Beruf besser miteinander vereinbaren und die Kunden bekommen sogar um elf Uhr noch ofenwarmes Brot. Wenn sie den kleinen Laden mit den selbstgezimmerten Regalen betreten, blicken sie durch eine Fensterfront in die Backstube – ein 110 Quadratmeter großer heller Raum mit einem modernen Elektroofen. „Oft klopfen Leute an die Scheibe, weil sie eine Frage haben oder ein Feedback abgeben wollen.“
Eine weitere Revolution: Das Sortiment ist wesentlich kleiner als früher. Anstelle von 70, 80 Produkten bietet Kress nur 15 bis 20 an. Dafür legt der Weinheimer Starbäcker jetzt noch mehr Wert auf alte Handwerkstradition. Gutes Brot braucht wenig Zutaten, aber ganz viel Zeit. Kress‘ Ware ist nicht wie in der industriellen Herstellung nach zwei Stunden fertig, sondern reift bis zu drei Tage. „Währenddessen werden die Zuckerstoffe, die im Getreide vorhanden sind, abgebaut“, erläutert er. Das Brot wird bekömmlicher und schmeckt besser.
Der Weg zum großen Triumph
Anfang dieses Jahres wagt Kress den nächsten Schritt, um in den Bäcker-Olymp zu gelangen. Er bewirbt sich für die Weltmeisterschaft der Brotsommeliers, die bei der Internationalen Bäckereiausstellung in Düsseldorf zum ersten Mal ausgetragen wird, und qualifiziert sich für die Endausscheidung. Nach der ersten Runde wird es spannend: Vier der fünf Finalisten stehen fest, Kress ist nicht dabei. Es hat wohl nicht gereicht, befürchtet er. Doch dann wird er als letzter Kandidat aufgerufen – und gewinnt. Jubel. „Ich fühle ich mich megastolz, mir fehlen die Worte“, spricht er in das Mikrofon eines Fernsehsenders.
Drei Monate später hat der Pokal einen Ehrenplatz in der Wohnzimmervitrine bekommen. In der Backstube arbeitet der Brotsommelier-Weltmeister weiter an der Perfektion. Häufig werde er gefragt, ob er jetzt ein Star sei – „aber ich bin immer noch so wie vorher.“ Mit seinem Vater gibt es allerdings kein Happy End. „Wir haben kein Verhältnis mehr“, sagt Michael Kress. Auch das ist eine Erkenntnis nach einem langen Prozess.