Suchterkrankungen und ADHS: „Wie ein Urlaub fürs Gehirn“

Bier Flaschen Alkohol: ADHS und Sucht Um die Langeweile zu betäuben, greifen ADHS-Patienten nicht selten zur Flasche. Foto: Manfred Richter / Pixabay

ADHS gehört zu den häufigsten kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen und hat auch Auswirkungen im Erwachsenenalter. Denn ADHS-Patienten haben ein deutlich höheres Risiko für Suchterkrankungen als gesunde Menschen. Eine Betroffene erzählt, wie sie in den Alkoholismus abglitt – und dann doch einen Ausweg fand. Ein Suchtmediziner klärt auf.

“Um am Abend runterzukommen, habe ich begonnen, Alkohol zu trinken. Zuerst war es nur ein bisschen, dann ist es mehr geworden, um die Unruhezustände zu regulieren. Oder um das schlechte Gewissen wegzuschieben, wenn ich wieder etwas aufgeschoben hatte – so hat es angefangen.”

Jeder kann süchtig werden, doch für einige Menschen ist die Gefahr, eine Sucht zu entwickeln, größer als für andere. Das gilt zum Beispiel für Menschen mit ADHS, der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Die Gefahr, dass ADHS-Patientinnen und -Patienten abhängig werden, schätzen Expertinnen und Experten bei Nikotin etwa auf das Dreifache, bei Alkohol und Kokain etwa doppelt so hoch ein wie für gesunde Menschen. Bei Marina Lindemann war es immer nur Alkohol, aber den konsumierte sie massenhaft.

“Zuerst war es nur abends, dann tagsüber. Beim Kochen, um mich zu konzentrieren. Vor dem Schlafen, um zu entspannen. Ich habe Flaschen vor meinem Ehemann versteckt. Ich habe Ausreden erfunden, um noch mal einkaufen zu fahren, um etwas zu trinken zu besorgen. Bei der Arbeit war ich unaufmerksam. Dann kamen die Geldprobleme, ich habe meine Familie beklaut, um Alkohol zu kaufen. Alles ging den Bach runter. Heute schäme ich mich dafür. Mein ganzer Tagesablauf drehte sich nur darum, wie ich was zu trinken bekomme. Wie bringe ich die Flaschen wieder weg? Das Leben funktionierte nur noch mit Alkohol. Über ein Jahr hat sich das gesteigert, dann kamen die Entzugserscheinungen. Da habe ich gemerkt, dass ich was ändern muss.”

ADHS gehört zu den häufigsten kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen. Erwachsene, die als Kind ADHS hatten, haben in 90 Prozent der Fälle weiterhin Einschränkungen, wie Unaufmerksamkeit oder Impulsivität. Sie handeln häufig schneller als sie denken und bedenken dadurch Konsequenzen nicht immer. “Die probieren dann öfter mal Sachen aus, vor denen andere zurückschrecken. Dadurch kommt es häufiger zu einem früheren, aber auch sehr schnell eskalierenden Konsum”, sagt Mathias Luderer, Oberarzt am Universitätsklinikum Frankfurt und Leiter des Bereichs Suchtmedizin. Ein Drittel der Menschen mit ADHS leidet außerdem unter Problemen mit der Gefühlsregulation. Sie sind sehr schnell traurig, wütend oder frustriert. Vor zwei Jahren wurde bei Marina Lindemann ADHS diagnostiziert:

“Damals habe ich eine Langzeittherapie wegen meiner Alkoholsucht gemacht, ich kämpfe seit sieben Jahren gegen sie an. Dort wurde ich richtig durchgecheckt: Fragen zu meiner Kindheit, unterschiedliche Tests. Meine Therapeutin war die erste, die eine ADHS-Diagnose für möglich hielt. Dann habe ich einen Fragebogen ausgefüllt und meine Zeugnisse aus der ersten und zweiten Klasse vorgelegt. Daraus konnte man ziemlich klar erkennen, dass ich wohl ein Kind mit ADHS war. Im ersten Moment war ich erleichtert, die Diagnose hat schließlich viele Verhaltensweisen von mir erklärt. Ich habe verstanden, wieso ich so impulsgesteuert bin.”

ADHS und Sucht: Risiko für Abhängigkeit erhöht

Die ADHS-Symptome beeinflussen das Verhalten. Betroffene reden häufig viel und unterbrechen andere, sie wirken unkonzentriert und schieben Wichtiges auf. Das eigene Umfeld reagiert genervt auf solche Verhaltensweisen. Die Folge: ein geringes Selbstwertgefühl. “Eine Theorie im Zusammenhang mit ADHS und Sucht ist, dass der schlechte Selbstwert, also das Gefühl, ich bin nicht so viel wert wie die anderen, dazu führen kann, dass Betroffene dieses Gefühl durch Substanzkonsum versuchen zu kompensieren”, sagt Luderer. Zusätzlich können genetische Faktoren sowohl das Risiko für eine Abhängigkeit als auch für ADHS erhöhen.

Substanzen mit Suchtpotenzial wie Alkohol, Cannabis oder Kokain wirken in den Teilen des Gehirns, die für die Entstehung positiver Gefühle und die Unterdrückung negativer Emotionen verantwortlich sind. Sie lösen ein schlagartiges Auftreten von euphorischen Gefühlen aus und reduzieren kurzfristig Stress, Trauer und Angst. Das macht sie besonders für Menschen mit ADHS reizvoll, die ohnehin unter einer Unterversorgung mit Dopamin leiden, also dem Botenstoff, dem nachgesagt wird, für Glücksgefühle zuständig zu sein.

“Dopamin kann nicht in den verschiedenen Hirnarealen wirken, weil Menschen mit ADHS zu viele von den Transportern haben, die das Dopamin befördern”, sagt Monika Ridinger, niedergelassene Fachärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Suchtmedizinerin in der Schweiz, die sich auf die Therapie von ADHS-Patienten spezialisiert hat. “Bevor es wirken kann, wird es zurücktransportiert.”

Wenn Betroffene nun Drogen konsumieren, wird einerseits Dopamin ausgeschüttet, und andererseits werden die Dopamin-Transporter blockiert. Das Defizit wird kurzfristig ausgeglichen, Patienten bekommen das Gefühl, sich helfen zu können. Ein Dauerkonsum von Drogen aber kann dazu führen, dass der Dopaminspiegel langfristig sogar noch weiter absinkt, die ADHS-Symptome werden stärker, Reize werden schlechter gefiltert, und Konzentrationsprobleme treten vermehrt auf. Manche Patienten versuchen dann, noch mehr Alkohol oder Drogen zu nehmen – und geraten in einen Teufelskreis. Auch Marina Lindemann konnte durch die ADHS nur schwer abschalten und ihre Gedanken kontrollieren.

“ADHS hat sich bei mir durch Aufschieberitis gezeigt. Und wenn etwas anstand, wie etwa ein Bewerbungsgespräch, hatte ich eine totale innere Unruhe und wiederkehrende Zwangsgedanken. Manchmal war ich wie in einer Paralyse: Du willst etwas machen, aber du kannst nicht. In anderen Momenten habe ich Sachen gemacht, ohne darüber nachzudenken, absolute Risikobereitschaft. Ich war immer auf 180 mit dem Körper, mit dem Kopf. Ich konnte mich kaum selbst runterregulieren.”

Es sei ein großes Problem, dass die Betroffenen oft nicht erkannt werden und ihnen dadurch nicht optimal geholfen werden kann, sagt ADHS-Experte Luderer. Für die Behandlung einer Alkoholsucht biete sich vor allem die Psychotherapie an. “Dafür braucht man aber eine gute Konzentration und Aufmerksamkeit. Wenn man diese nicht hat, dann schaltet man irgendwann in Gesprächen ab, denkt an etwas anderes, und dann bringt die Behandlung nichts”, sagt Luderer. Marina Lindemann hat vieles probiert…

“Blaues Kreuz, stationäre Entgiftung, Therapie. Jedes Mal dachte ich, das wird jetzt wieder, das funktioniert. Aber sobald das erste Stresslevel erreicht war, fing ich doch wieder an. Mit der Diagnose ADHS habe ich schnell den Zusammenhang zu meinem Suchtverhalten erkannt. Wenn ich mich runtergetrunken hatte und es mir am nächsten Tag richtig schlecht ging, ich einen Kater hatte, dann war das wie Urlaub im Kopf. Du musst dir über nichts Gedanken machen, es passiert nichts, es steht nichts an, du kannst schlafen. Und wenn du aufstehst, kannst du wieder trinken. Das Gedanken-Wirrwarr war weg.”

ADHS wird bei Erwachsenen immer noch oft nicht erkannt. “Bleibt das ADHS unentdeckt oder wirkt die Behandlung nicht, konsumieren Betroffene oft jahrelang weiter”, sagt Luderer. Die Folgen: körperliche Schäden wie Leberzirrhosen, Herzinfarkte, eine kürzere Lebenserwartung. Oder psychosoziale Folgen wie Depressionen und Angststörungen. Lange galt der Konsens, erst müsse die Sucht behandelt werden und danach die ADHS. Das Problem, sagt die ADHS-Expertin Ridinger, seien die Entzugssymptome. “Wenn man jemanden mit ADHS-Symptomatik entwöhnen will und dieser Person dann das wegnimmt, was ihr einigermaßen die innere Unruhe nimmt, kommt man gar nicht durch den Entzug.” Nach aktuellem Stand der Leitlinie sollten die Störungen daher immer parallel behandelt werden. Marina Lindemann hat ihren Weg gefunden, mittlerweile traut sie sich sogar, ihre Geschichte in sozialen Netzwerken öffentlich zu machen.

“Nach der Diagnose musste ich lernen, meinen Alltag neu zu bewältigen. Ich brauche jetzt immer einen strukturierten Tagesablauf, schreibe mir eine Liste mit Dingen, die ich erledigen muss – und hake sie ab. So kann ich sehen, was ich wirklich schaffe. Wenn ich das nicht mache, komme ich durcheinander. Das wäre die Grundlage dafür, rückfällig zu werden. Ansonsten hilft mir Ausdauersport; ich versuche auch, abends zu meditieren. Falls mich unterwegs der Suchttrieb überkommt, habe ich verschiedene Skills: Einen Igel-Ball kneten, saure Snacks essen, einen Liter kaltes Wasser trinken. Das gibt mir Impulse und lenkt das Gehirn ab.”

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