Post Covid und ME/CFS: Zahl der Betroffenen steigt auf 1,5 Millionen

Viele Betroffene beklagen, dass sie keine Unterstützung vom Staat bekommen. Foto: Adobe Stock / WMSTUDIO Viele Betroffene beklagen, dass sie keine Unterstützung vom Staat bekommen. Foto: Adobe Stock / WMSTUDIO

Der heutige internationale ME/CFS-Tag soll auf die immer noch wenig bekannte Erkrankung aufmerksam machen. Ausgelöst wird sie auch vom Coronavirus. Neueste Schätzungen gehen von 1,5 Millionen Post Covid- und ME/CFS-Betroffenen in Deutschland aus. Viele Patienten fühlen sich alleingelassen. 

Geschichten über Post Covid sind oft Erzählungen von Leid und verhinderten Chancen. Gibt man im Internet den Namen Florian Beerhalter ein, liefert die Suchmaschine als erstes eine Mitteilung der Kreishandwerkerschaft Rems-Murr: Herzlichen Glückwunsch an den Prüfungsbesten der Winterprüfungen 2021/2022 und Otto-Frey-Preisträger. Ein Foto zeigt den Auszubildenden der KFZ-Mechatronik, lächelnd mit der Urkunde in der Hand, an seiner Seite der Kreishandwerksmeister. Es ist ein Moment des Stolzes und der Zuversicht – und ein harter, schmerzhafter Kontrast zu heute.

Im Frühjahr 2025 liegt der junge Mann im Bett seines verdunkelten Zimmers. Auf dem Nachtschrank stehen Medikamente und eine Urinflasche aus Plastik, weil er das Bett nur mit größter Anstrengung verlassen kann, hinter dem ungenutzten Fernseher taucht eine Lampe den Raum in indirektes, schummriges Licht. „Zu viel Helligkeit halte ich nicht aus. Es fühlt sich dann an, als würde mein ganzer Körper erstarren“, sagt er während eines Zoom-Gesprächs und schwenkt die Kamera seines Smartphones durch den Raum.

Die Außenwelt nimmt der 24-Jährige aus der Gemeinde Urbach (Remstal) seit seiner Diagnose ausschließlich digital wahr, das letzte Tageslicht sah er im Jahr 2023. Ein Fenster in die Welt ist die Webcam der benachbarten Stadt Schorndorf, die den Marktplatz zeigt: Alle 60 Sekunden aktualisiert sich das Bild mit den Fachwerkhäusern, dem Brunnen und dem Café. 

Post Covid und ME/CFS: Fallzahlen rapide gestiegen

Ein großer Teil der von Post-Covid-Betroffenen entwickelt ME/CFS. Studien kommen zu dem Schluss, dass rund 20 Prozent der Post Covid-Patienten, die nach einem Jahr nicht genesen sind, ME/CFS entwickeln. Die Erkrankung tritt häufig infolge viraler Infektionskrankheiten auf, zum Beispiel durch Herpesviren wie dem Epstein-Barr-Virus, Dengue- oder Influenza-Viren (Auslöser können zudem Halswirbelverletzungen oder eine Covid-Impfung sein). Oder eben infolge von einer Corona-Infektion, wie bei Florian Beerhalter. Laut der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) gab es vor der Pandemie rund 400.000 ME/CFS-Patienten in Deutschland, im Jahr 2023 sind es bereits rund 620.000 gewesen. Weil dies nur die Behandlungsfälle bei Kassenärzten abbildet, also keine Versorgung in Krankenhäusern oder Privatpraxen, dürfte die tatsächliche Zahl laut Fachleuten noch größer sein.  

Florian Beerhalter im Mai 2025 in seinem Bett. Foto: Privat
Florian Beerhalter im Mai 2025 in seinem Bett. Foto: Privat

Joerg Heydecke, Geschäftsführer der ME/CFS Research Foundation, engagiert sich für eine bessere Erforschung der Erkrankung. Nach neuesten Schätzungen der Stiftung leiden inzwischen rund 650.000 Menschen in Deutschland an ME/CFS, auf rund 870.000 Menschen trifft die Diagnose Post Covid zu. „Wir gehen davon aus, dass über 1,5 Millionen Menschen hierzulande mit einem der beiden Leiden zu kämpfen haben, bei weiterhin steigender Tendenz. Die Kosten für eine adäquate Versorgung würden sicherlich einen hohen zweistelligen Milliardenbetrag pro Jahr ausmachen“, sagt Heydecke. 

Der Bedarf an Unterstützung ist riesig. Eine Anfang des Jahres veröffentlichte Langzeitstudie aus Baden-Württemberg kommt zu dem Schluss: Zwei Drittel der Post-Covid-Betroffenen haben sich wie Florian Beerhalter im zweiten Jahr ihrer Erkrankung kaum erholt. „Wir konnten anhand von ergometrischen Untersuchungen und Belastungstests systematisch untermauern, dass es sich um eine organische Erkrankung handelt und nicht, wie von einigen Seiten gemutmaßt, um ein psychosomatisches Problem“, sagt Professor Winfried Kern vom Universitätsklinikum Freiburg.  

Gemeinsam mit den Unikliniken Heidelberg, Tübingen und Ulm wurden 1500 ehemals Infizierte im arbeitsfähigen Alter von 18 bis 65 Jahren untersucht. Wer länger als neun Monate unter Symptomen wie chronischer Müdigkeit, Belastungsintoleranz oder Fatigue litt, galt als Post-Covid-Betroffener. „Nach der Spiroergometrie, also der Messung der Lungenfunktion und weiterer Parameter unter Belastung, haben wir die Vermutung, dass das vegetative Nervensystem eine Vertiefung der Atmung nicht mehr gewährleistet“, sagt Kern. Bei rund 30 bis 40 Prozent der untersuchten Post-Covid-Betroffenen stieg der Puls unter körperlicher Anstrengung nicht an wie in der Kontrollgruppe, was bei den Erkrankten wohl zu dem Gefühl der Überlastung führe. Eine weitere wichtige Erkenntnis der Studie: Obwohl einige Forscher davon ausgingen, scheint der Cortison-Stoffwechsel keine Ursache von Post Covid zu sein. „Mit Blick auf die Behandlung gibt es leider weiterhin keine ursächlichen, medizinischen Ansätze, sondern nur symptomatische“, sagt der Infektiologe. Post-Covid-Ambulanzen bundesweit setzen auf Atem- und Physiotherapie, kombiniert mit unterstützenden Medikamenten wie Antidepressiva.

Reha: Radfahren ohne Widerstand, Stangen ohne Gewicht

Rund acht Monate nachdem das Preisträger-Foto von Florian Beerhalter entstand, steckte er sich mit Corona an. Im Weihnachtsurlaub 2022 verlief die Infektion mild, erzählt er. „Dann habe ich gemerkt, dass ich bei Spaziergängen mit der Familie und den Hunden nicht mehr hinterherkomme.“ Auf Anraten des Hausarztes ging er häufiger spazieren, „doch das machte es eher schlechter, die Atmung machte mehr und mehr Probleme“. In der Hoffnung auf Beserung, nahm er sich eine Auszeit und ließ sich ein paar Wochen in einer Lungenfachklinik behandeln. „Ich hatte damals keine Ahnung, was für ein Ausmaß das Ganze annehmen würde“, sagt er. Das Laufen wurde beschwerlicher, für längere Strecken brauchte er einen Rollator. Zu Beginn der Reha machte man ihm Mut: Er werde den Rollator am Ende einwechseln gegen ein Rennrad – und diesem Hobby wieder nachgehen können. In der Klinik machte er Atemtraining und diverse Entspannungsprogramme.

Beerhalter muss einen Rollator beantragen. Für die Zeit nach der Reha bekam er Übungen für zuhause empfohlen. „Die waren eigentlich mit meinem sportlichen Hintergrund ein Witz: Radfahren ohne Widerstand, Stangen heben ohne Gewicht, Atemübungen“, sagt Beerhalter. „Gerade solche aktivierenden Therapien haben meinen Gesundheitszustand massiv verschlechtert“, sagt Beerhalter. „Schließlich ging es mir jedenfalls nicht besser und ich habe einen Rollator für zuhause beantragt.“

Seine Familie und Florian Beerhalter suchen nach Lösungen, fühlen sich von den Ärzten alleingelassen. Im Internet lesen sie von der Erkrankung myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom, ME/CFS. Sie erfahren von einem Blutwäsche-Verfahren, bei dem Mikroblutgerinsel entfernt werden sollen. Seine Mutter fährt ihn an vier aufeinanderfolgenden Wochen jeweils drei Stunden mit dem Auto zu den Terminen. „Danach waren meine Blutwerte besser, aber es ging mir viel schlechter“, sagt Beerhalter. Als er neun Wochen später einen Termin für die Anpassung eines Rollstuhls zuhause hat, passiert das, was in der Fachsprache mit Post-Exertioneller Malaise (kurz: PEM) beschrieben wird und irreparable Schäden nach sich ziehen kann: „Ich bin gecrasht, völlig zusammengebrochen und habe seitdem mehr als 500 Tage das Tageslicht nicht mehr gesehen“, sagt er. Seither trägt er dauerhaft Gehörschutz, ernährt sich von Flüssignahrung, kann das Bett nur verlassen, wenn er im Rollstuhl ins Bad gebracht wird.

Florian Beerhalter ist Mitglied der Selbsthilfegruppe Fatigatio e.V., die Regionalgruppen in ganz Deutschland hat. Wenn er etwas Energie hat, kümmert er sich um Anträge. „Momentan bekomme ich Arbeitslosengeld 1 auf Grundlage des Gehalts meines dritten Lehrjahres.“ Davon zahle er seine Medikamente, weil die Krankenkasse nichts übernehme. Er habe keinen Grad der Behinderung anerkannt bekommen. „Die Begründung war, dass man keinen Bedarf sehe“, sagt Beerhalter. „Zurzeit läuft auch ein Antrag auf Erwerbsminderungsrente – aber die Rentenkasse hat einen Bescheid geschickt, dass ich noch mal in eine psychosomatische Reha soll. Wir versuchen zu erklären, dass das nicht geht“, sagt Beerhalter. 

Die Zahl der bewilligten Erwerbsminderungsrenten steht in krassem Kontrast zu den Fallzahlen. Auf Anfrage von Reporterdesk teilt die Deutsche Rentenversicherung mit, dass Im Jahr 2023 2.640 Erwerbsminderungsrenten im Zusammenhang mit Covid-19 bewilligt wurden. Davon waren 2.570 aufgrund des Post-Covid-Syndroms. Mit der Haupt- oder Nebendiagnose ME/CFS gab es im Jahr 2023 insgesamt 3096 Neuzugänge von Erwerbsminderungsrenten (ein Jahr zuvor waren es noch 1799). Auf Nachfrage, wie die Kluft zwischen der Zahl der Erwerbsminderungsrenten und Erkrankten zu erklären ist, heißt es: „An Post Covid oder ME/CFS erkranken nicht nur Personen, die im Berufsleben stehen und bei der Deutschen Rentenversicherung versichert sind.“ Dazu gehörten: Kinder und Jugendliche, die noch keinen Anspruch auf Rente haben. Personen, die in anderen Versorgungswerken versichert sind. Selbstständig Tätige oder Hausfrauen, die die Voraussetzungen nicht erfüllen. Und Bezieher einer Altersrente.

ME/CFS Research Foundation mit Forderungen

Der Koalitionsvertrag der neuen schwarz-roten Bundesregierung erwähnt die Themen Post Covid und ME/CFS mit wenigen Sätzen und verspricht nebulös die Forschung zu fördern. Joerg Heydecke von der ME/CFS Research Foundation fordert, dass mehr und vor allem nachhaltig Geld in die Grundlagen- und Arzneimittelforschung investiert wird. „Bislang gibt es auf diesem Gebiet viel zu wenig Forschung. Und Forschung wird letztlich die Lösung sein, um das Leid der Betroffenen und die immensen gesellschaftlichen Kosten zu reduzieren“, sagt er. Der wirtschaftliche Schaden liege laut Berechnungen der Organisation in Deutschland im Jahr bei aktuell rund 63 Milliarden Euro. Diese setzen sich zusammen aus persönlichen, betrieblichen, gesellschaftlichen und medizinischen Kosten, die sich aus der geringeren Wertschöpfung und den erhöhten Ausgaben im Zusammenhang mit den Patienten ergeben.

Florian Beerhalter wie andere schwer Betroffene kritisieren, dass Post Covid und ME/CFS als Krankheit in der Öffentlichkeit psychologisiert werden. „Wer sehr schwer krank ist, kann eine psychische Beeinträchtigung bekommen, aber eben durch die Krankheit“, sagt der 24-Jährige. Er wünscht sich, dass schwererkrankte ME/CFS-Betroffene bei der Aufarbeitung der Pandemie nicht weiter ignoriert werden. 

An der Wand seines Zimmers hängt ein Foto. Es zeigt ihn in einem Kroatien-Urlaub auf einem Roadtrip an der Adriaküste, ein halbes Jahr vor seiner Infektion. „Ich habe im Auto geschlafen und einfach dort gehalten, wo der Blick aufs Meer am schönsten war“, sagt er. Wenn es eines Tages die Chance gibt, will er das noch einmal erleben.  

Beerhalter im August 2022 im Urlaub in Kroatien. Foto: Privat
Beerhalter im August 2022 im Urlaub in Kroatien. Foto: Privat

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