Mit der zunehmenden Einwanderung steigt in Deutschland die Zahl von Frauen mit Genitalverstümmelung. Hilfsangebote gibt es bundesweit nur wenige. Isabel Runge von der Uniklinik Freiburg ist eine der seltenen Spezialistinnen.
Drei Schreibtische, ein Bett und eine Kaffeemaschine. Isabel Runge sitzt in ihrem Bereitschaftszimmer der Klinik für Frauenheilkunde am Uniklinikum Freiburg. Auf ihrem Computerbildschirm ist eine Fachpräsentation mit Abbildungen weiblicher Geschlechtsorgane zu sehen, die sie hoch konzentriert durchklickt.
Die 37-Jährige ist Gynäkologin und landesweit eine der wenigen Expertinnen rund um das Thema weibliche Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation/Cutting, kurz FGM/C). Runge leitet nicht nur die medizinische Sprechstunde der „Zentralen Anlaufstelle FGM/C Baden-Württemberg“, seit einigen Jahren schult sie auch Mediziner.
Sie nimmt einen Schluck Cappuccino, deutet auf ein Foto: „Das Problem ist, dass selbst Gynäkologen die Genitalverstümmelung nicht auf den ersten Blick erkennen, weil jedes Geschlechtsorgan anders aussieht.“ Bei Typ 1 wird die Klitorisspitze abgeschnitten, bei Typ 2 auch Teile der Schamlippen, bei Typ 3 wird nach Klitoris- und Schamlippenentfernung alles zugenäht. Runges Bildschirm zeigt das Bild einer Typ-3-Betroffenen. Wo eigentlich die Vulva mit ihren Rundungen und Schamlippen zu sehen ist, ist einfach nichts. „Sehen Sie, nur noch ein winziges Löchlein, damit Urin und Menstruationsblut abfließen können.“
Genitalverstümmelung: Nur wenige Mediziner für Behandlung
Häufige Harnwegsinfektionen und ständige Schmerzen beim Wasserlassen seien noch die harmloseren Nachwirkungen. Viele Frauen empfinden nichts mehr beim Sex – und wenn doch, dann Schmerzen. „Tatsächlich müssen die meisten Typ-3-Betroffenen vor dem ersten Geschlechtsverkehr eröffnet werden“, erklärt Runge.„Zudem ist das Narbengewebe bei allen FGM/C-Formen weniger elastisch, kann bei Geburten reißen und gefährliche Blutungen zur Folge haben.“
Nur wenige Kliniken und Mediziner in Deutschland sind auf die Behandlung genitalverstümmelter Frauen spezialisiert. Früher kam FGM/C hierzulande kaum vor. Aber durch die zunehmende Einwanderung steigt die Zahl betroffener Frauen stetig an – seit 2017 um rund 40 Prozent. Laut Terre des Femmes sind alleine in Baden-Württemberg rund 11 000 Frauen und Mädchen betroffen. Deshalb hat das Landessozialministerium reagiert und 2023 die zentrale Anlaufstelle für Betroffene in Stuttgart geschaffen. Isabel Runge und ihr Freiburger Team haben die medizinische Betreuung übernommen.
„Der Klitoris, als Zentrum des weiblichen Lustempfindens, wird in vielen Weltregionen besondere Aufmerksamkeit geschenkt – in vielen afrikanischen Ländern, aber auch in Asien, Südamerika und dem Nahen Osten werden Beschneidungen durchgeführt“, sagt Isabel Runge. Sie zeigt auf eine Weltkarte. Guinea (95 Prozent der Mädchen und Frauen betroffen) und Mali (89 Prozent) in Westafrika sind darauf ebenso tiefrot eingefärbt wie Somalia (98 Prozent), Sudan (78 Prozent) und Ägypten (87 Prozent) im Norden und im Osten des Kontinents.
Die Gründe für Beschneidung seien meist kulturell und weniger religiös bedingt: „Sie reichen von einem speziellen Schönheitsideal der Frau über die bewusste Drosselung des sexuellen Verlangens bis hin zum Aberglauben, dass ein Kind, das bei der Geburt die Klitoris berührt, geschädigt oder verflucht wird“, sagt Runge, die schon oft mit Rekonstruktions-Spezialisten aus Gießen und Heidelberg (wo der plastische Chirurg Dan mon O’Dey eine Methode für eine vollständig und empfindungsfähige Wiederherstellung des versehrten weiblichen Genitalbereichs entwickelte) bei Einsätzen in Tansania war.
Was weniger bekannt ist: „Wirft man einen Blick in die Medizingeschichte, zeigt sich, dass auch in Europa bis ins 20. Jahrhundert Klitoris-Entfernungen praktiziert wurden. In der frühen Psychotherapie ging man davon aus, dass die Entfernung Hysterie heilen kann.“ Mehr als Aberglaube steckte auch hinter dieser These nicht.
Isabel Runge schlüpft in ihren weißen Kittel. Durch lange Krankenhausgänge geht es ins Erdgeschoss der Frauenklinik. Jeden Montag bietet sie hier eine Sprechstunde für Betroffene an. „Das Thema ist heikel“, sagt Runge, „die Patientinnen sind oft traumatisiert. Ich weiß nie, wie die Frau auf meine Fragen reagiert.“ Im Sprechzimmer steht hell erleuchtet ein gynäkologischer Untersuchungsstuhl, auf einem Schreibtisch liegt das Modell einer Vagina in Kuscheltier-Optik. Runge öffnet eine Schublade und holt ein Ringbuch heraus, das unzählige Fotos gesunder weiblicher Geschlechtsorgane in den verschiedensten Hautfarben zeigt. „Manche Patientinnen blättern die Fotos hochinteressiert durch, schauen sich das Stoffmodell neugierig an“, sagt sie. „Oft verstehen sie erst in diesem Moment, was ihnen angetan wurde. Und dass sie Überlebende sind!“
Kinderschutz ist wichtiges Thema
126 Patientinnen hat Isabel Runge allein im vergangenen Jahr untersucht. Die meisten wurden in ihrem Herkunftsland beschnitten. Eine Betroffene berichtete, dass sie drei oder vier Jahre alt war, als es passierte. Ihr wurde ein Ei als Belohnung versprochen, wenn sie mit der alten Dame mitgehe. Ein Ei war damals eine ganz besondere Delikatesse in ihrer Heimat Burkina Faso. Also ging sie mit. Ohne Betäubung schnitt ihr die alte Frau Klitoris und innere Schamlippen weg – ob mit einer alten Rasierklinge oder einer Glasscherbe, das wusste die Betroffene nicht mehr. Aber die Schmerzen der Schnitte und die Stiche beim Zunähen bleiben ihr für immer unvergessen. Rund 20 Jahre später in Deutschland, bei der Geburt ihres ersten Kindes, wäre sie fast verblutet.
„Genau davor möchte ich Frauen bewahren“, sagt Isabel Runge. So beiläufig, wie sie sich über die Monatsblutung erkundigt, fragt sie ihre Gegenüber zum Thema Beschneidung, klärt dann über Geburtsrisiken, operative Möglichkeiten und weitere Hilfsangebote auf. Betroffene bekommen in der Sprechstunde auch ein Attest ausgestellt, das im Asylverfahren eine Rolle spielen kann. „Wenn eine unbeschnittene Tochter vor diesem Schicksal geschützt werden kann zum Beispiel“, sagt Runge.
Der Kinderschutz sei ein zentral wichtiges Thema in jedem Beratungsgespräch. „Wir wissen leider sicher, dass in Nachbarländern wie den Niederlanden und Frankreich Beschneidungen durchgeführt werden. Und wir müssen davon ausgehen, dass es auch in Deutschland passiert.“ In Baden-Württemberg gelten rund 1500 Mädchen als gefährdet.
Was die Zunahme von Beschneidungen für Klinikärzte, niedergelassene Gynäkologen oder Hebammen bedeutet, will Runge in Schulungen an das Fachpersonal weitergeben. „Ärzte wissen häufig nicht, wie sie mit FGM/C umgehen sollen, wenn sie zum ersten Mal eine komplett zugenähte Typ-3-Patientin sehen“, sagt sie. „Aber in dieser Situation müssen wir eine professionelle Haltung bewahren und sachlich Fragen stellen.“
Selbst, wenn keine offensichtliche Verstümmelung vorliege, sollten Kollegen bei Patientinnen aus FGM/C-Herkunftsländern standardmäßig Fragen stellen. „Gerade, weil Typ 1 und 2 manchmal kaum erkennbar sind, ist das wichtig.“ Runge weiß aus ihrer Erfahrung: „Betroffene Frauen nehmen diese Frage meist nicht übel. Sie sind eher dankbar und erkennen die Chance auf eine neue Zukunft ohne Gewalt – auch für ihre Töchter.“