150. Geburtstag von Thomas Mann: Novelle mit Sprengstoff

Briefmarken mit Thomas Mann. Der Schriftsteller wurde vor 150 Jahren geboren. Foto: Adobe Stock / Popova Olga Briefmarken mit Thomas Mann. Der Schriftsteller wurde vor 150 Jahren geboren. Foto: Adobe Stock / Popova Olga

Rückblick zum 150. Geburtstag von Thomas Mann: Die Novelle „Wälsungenblut“ erschütterte sein Verhältnis zur Familie seiner Ehefrau Katia. Der Verlag sollte die Veröffentlichung stoppen, doch ein Zufall verhindert das.

Manchmal führt eine kleine Erzählung zu großen Verwerfungen – die frühe Erzählung von Thomas Mann mit dem Titel „Wälsungenblut“ ist so eine. In der Beschreibung der S. Fischer Verlage heißt es, die Novelle sei „ein Glanzstück mit wechselvoller Geschichte. Sie entstand 1905, konnte aus familiären Gründen aber erst 1921 in einem Privatdruck erscheinen“. Die rätselhafte Formulierung „aus familiären Gründen“ verschleiert die pikanten Umstände der Entstehungsgeschichte.

„Wälsungenblut“ kann als eine der brisantesten und kontroversesten Erzählungen des späteren Nobelpreisträgers angesehen werden. Hintergrund ist die alte Frage von Dichtung und Wahrheit, die immer wieder Anlass zu Streitigkeiten liefert: Sind die Figuren der Erzählung nur fiktiv oder schimmern eben doch die Charakteristika von Realpersonen durch? Kurzum: Hat es die Leserschaft mit einer „Schlüsselnovelle“ zu tun?

Wie ein roter Faden ziehen sich Vorwürfe solcher Art durch die Literaturgeschichte. Anfang des Jahres scheiterte der Berliner Galerist Johann König mit einer Klage gegen die Verbreitung des Romans „Innerstädtischer Tod“ des Schriftstellers Christoph Peters. Das Bundesverfassungsgericht untersagte im Jahr 2007 die weitere Verbreitung von Maxim Billers Roman „Esra“. Es sah die Persönlichkeitsrechte der Ex-Freundin des Schriftstellers verletzt. Ein Skandal zahlt sich mit Blick auf die Ökonomie der Aufmerksamkeit selbstredend aus.

Das Spiel von Fiktion und Wirklichkeit durchzieht auch Thomas Manns Werk: Ähnlich wie Manns Onkel, Friedrich Mann, der sich entsetzt in den „Buddenbrooks“ als Christian zu erkennen meinte, sah sich Komponist Arnold Schönberg leidlich verschlüsselt im „Doktor Faustus“ als Adrian Leverkühn dargestellt. Die Vorwürfe, die dem Schriftsteller im Zuge von „Wälsungenblut“ entgegenschlugen, trafen ihn allerdings in einer besonders sensiblen Lebensphase. Zum 150. Geburtstag lohnt sich der Blick auf die Details des ironisch-distanzierten Sittengemäldes.

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„Wälsungenblut“ erzählt die Geschichte eines Tages im großbürgerlichen Milieu der Familien Aarenhold. Im Zentrum stehen die jüdischen Zwillinge Sieglinde und Siegmund. Sie sind jung, schön, kunstsinnig – ihre Beziehung prägt eine zunächst noch unterschwellige erotische Spannung, die sich später Bahn bricht.

In die Familie drängt Offizier Beckerath, der um Sieglindes Hand anhält. Die Zwillinge blicken auf den Preußen herab, verabscheuen seine konventionelle Art („Die trivialste Existenz, in die ich Einblick gewonnen habe“, sagt etwa Siegmund). Am Abend besuchen die Geschwister Wagners Oper „Walküre“, in der die gleichnamigen Sieglinde und Siegmund sich als inzestuöses Paar vereinen („Braut und Schwester bist du dem Bruder / so blühe denn, Wälsungenblut“). Heimgekehrt in ihr Familien-Palais vollziehen die Figuren den wagnerschen Inzest nach, die beiden verlieren sich in „Liebkosungen, die übergriffen und ein hastiges Getümmel wurden und zuletzt nur ein Schluchzen waren“.

Das Jahr 1905, in dem Thomas Mann die 25-seitige Novelle schreibt, ist ein Wendepunkt in seinem Leben: Im Februar heiratet er Katia Pringsheim, die sich erst ziert, schließlich zustimmt. Von der geplanten Heirat erhofft er, wie er seinem Bruder schreibt, sich „eine Verfassung zu geben“. Kurz nach der Vermählung setzt Ernüchterung ein. So schreibt Mann einige Wochen nach der Hochzeit an Bruder Heinrich: „Die Verlobung – auch kein Spaß, Du wirst das glauben.“

Noch beteuert er, dass er zwar versuche, sich „in die neue Familie einzuleben, einzupassen (soweit es geht)“. Doch schon in den Flitterwochen muss sich Mann eingestehen, dass er gerne „ein bisschen mehr Klosterfrieden“ gehabt hätte. Anfängliche Euphorie verkehrt sich in Zweifeln, wenn er seinem Bruder schreibt: „Mir geht es miserabel (…) Ich sage es niemandem von meiner Umgebung, wie schlecht und erschöpft und abgenutzt und tot und fertig ich mich fühle. Ohne Frau und Kind und Anhang wäre mir wohl wohler und wurstiger. Mich quält der Gedanke, daß ich mich nicht hätte menschlich attachiren und binden sollen“. In dieser Gefühlslage schreibt Mann „Wälsungenblut“.

Der Schwiegervater war nicht amüsiert

Bevor die Novelle in den Druck gehen sollte, liest der Autor sie der Familie von Katia Pringsheim in deren Villa vor. Das Palais in der Münchener Arcisstraße 12 ähnelt der fiktiven Villa Aarenhold bis in Details. Hier wie dort hängen drei elektrische Kronleuchter im Speisezimmer. Der Schwiegervater Alfred Pringsheim ist glühender Wagner-Verehrer. Über ihn kursiert die Anekdote, dass er einem Opernkritiker, der sich abfällig über den Komponisten äußerte, einst in einem Gasthof den Bierkrug über den Kopf gezogen haben soll (was ihm in der Presse den Spitznamen „Schoppenhauer“ einbrachte). Dieser Alfred Pringsheim hört zu und ist überhaupt nicht amüsiert: Er sieht in der Novelle eine bösartige Karikatur, nicht zuletzt der Zwillinge Katia und Klaus Pringsheim.

Das Gerücht, der Schriftsteller karikiere in einer neuen Erzählung die Familie, macht in Münchner Gesellschaftskreisen die Runde. Arthur Schnitzler notiert in sein Tagebuch: „Seltsame Geschichte von Thomas Mann. Er schreibt eine Novelle Wälsungenblut. Geschwisterpaar, von Walküre heimkehrend liebt sich auf einem Bärenfell. (…) Plötzlich schickt der Schwiegervater Manns 6000 Mark zum Einstampfen der Auflage. Denn in der Novelle ist, wie jeder wusste, was noch rechtzeitig auch an des Schwiegervaters Ohren drang, die Frau Manns, die ganze Familie potraitgetreu geschildert.“

Ursprünglich soll die Novelle in der Januarausgabe der Literaturzeitschrift Neue Rundschau erscheinen. Zum Ende des Jahres 1905 will Klaus Pringsheim seinen Schwager, der vom 9. bis 15. Dezember auf einer Vortragsreise gewesen ist, vom Bahnhof abgeholt und ihn über die grassierenden Gerüchte in Kenntnis gesetzt haben. Kurz darauf folgt wohl ein erneutes Gespräch zwischen Alfred Pringsheim und Thomas Mann unter vier Augen. Immerhin: Schwiegermutter Hedwig Pringsheim schreibt Ende Januar schließlich an einen Freund, dass die „kleinen Schwiegerdifferenzen“ beigelegt seien.

Die Veröffentlichung ist verhindert, vorerst. S. Fischers Neue Rundschau, die den Text zur Publikation angenommen hatte, legte die bereits ausgedruckten Bogen zur Makulatur. Die Januarausgabe muss neu gedruckt werden. Doch es passiert ein folgenschweres Missgeschick. Die Makulaturbogen verwendet der Verlag offenbar als Packpapier, um andere Buchsendungen an die Händler zu verschicken.

So kommt es, dass der Skandal im Februar 1906 erneut aufflackert. Verstimmt schreibt Thomas Mann an seinen Verleger Samuel Fischer: „Man berichtet mir, dass ein hiesiger Buchhändler eine Buchsendung von S. Fischer erhalten habe, eingeschlagen in einen Druckbogen, der einen Teil von ‚Wälsungenblut‘ enthielt. Das geht nicht. Auf diese Weise wird die Unterdrückung illusorisch. Sie glauben nicht, wie man hier nach der Geschichte giert. Wenn Sie wollen, dass ich Frieden vor all der Dummheit und Bosheit haben soll, die, seit ich hier persönlich an sichtbarer Stelle stehe, mich umlauert, so tragen Sie Sorge, dass dergleichen Unvorsichtigkeiten nicht wieder vorkommen.“

Der „hiesige Buchhändler“ ist ein Volontär in einer Münchener Buchhandlung, Rudolf Brettschneider, der unter dem Packpapier einzelne Seiten einer Geschichte entdeckt hatte, an deren Stil er Thomas Mann erkannte. Als der Auszubildende in den Münchner Künstler- und Literatenkreisen von den Gerüchten um „Wälsungenblut“ erfährt, wartet er die nächsten Sendungen von Fischer ab, die ihm die noch fehlenden Abschnitte der Novelle liefern – bis er die gesamte Erzählung beisammenhat. Wie genau der Volontär den „Raubdruck“ in Umlauf bringt, ist nicht dokumentiert. Sicher ist hingegen, dass ein Typoskript, das offenbar auf seine Kopien zurückgeht, in einer Berliner Buchhandlung im Jahre 1919 auftauchte.

Für Manns Zweifel an der Erzählung, mit denen er bis in seine letzten Jahre zu kämpfen hat, spricht die spätere, offizielle Publikationsgeschichte: Erst kurz vor dem Höhepunkt der Inflation in Deutschland im Jahr 1921 veröffentlicht er die Novelle in einer teuren Luxusausgabe in kleiner Auflage. Einem breiteren Publikum wird das Werk erst in seiner überarbeiteten Fassung im Jahre 1958 zugänglich gemacht – auch diese Entscheidung deutet darauf hin, dass sich Mann nie vollends im Klaren darüber war, ob er die Novelle publizieren oder verbergen sollte. Die Erzählung jedenfalls fand ihren eigenen Weg in die Öffentlichkeit. Der Autor selbst beschreibt sie später, als wolle er ihre Bedeutung herunterspielen, als „eine kleine, sehr unabhängige Novelle“.

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