Mangelnde Anerkennung und Einsatzbereitschaft rund um die Uhr belasten die Psyche von Tierärzten: Studien belegen, dass Depression und Suizidgedanken in der Berufsgruppe besonders hoch sind. Die Hamburger Tierärztin Susanne Elsner gibt einen Einblick, warum das so ist und erklärt, was dagegen helfen kann.
Frau Doktor Elsner, was macht Tierärzten das Leben schwer?
Viele Menschen haben, im Gegensatz zu den Humanmedizinern, eine völlig falsche Vorstellung von unserem Beruf. Vor kurzem hatte ich eine Hebamme vor mir sitzen, die sich überhaupt nicht vorstellen konnte, dass ich für die Behandlung Geld nehme, weil sie ihrer Meinung nach zum Tierschutz gehören würde. Diesen Widerspruch muss man den Patienten immer wieder klar machen, das kostet Nerven. Es kommen Menschen, die Bürgergeld beziehen und plötzlich feststellen, dass sie die Behandlung nicht mehr bezahlen können. Auch das bedeutet: Diskutieren, wo eigentlich behandelt werden sollte.
Zwei aktuelle Studien kommen zu dem Schluss, dass sich nur knapp die Hälfte der Tiermediziner anerkannt fühlt und jeder dritte von ihnen suizidgefährdet ist. Hat Sie das erstaunt?
Diese Zahlen sind erschreckend, spiegeln aber auch den steigenden Druck wider, unter dem wir stehen. Wir haben es heute mit vielen Egozentrikern zu tun. Wenn Anrufer am Telefon nicht sofort kriegen, was sie sich vorstellen, werden sie aggressiv. Da heißt es dann: „Meinem Tier geht es jetzt schlecht, was bist du für ein schlechter Mensch, dass du es nicht sofort behandelst“. Vor längerer Zeit ist ein Zuhälter auf mich losgegangen, der die Rechnung für seinen Kampfhund nicht bezahlen wollte. Mein damaliger Chef ist schnell dazwischen gegangen und konnte Schlimmeres verhindern.
Das ist tatsächlich ein Extrembeispiel. Was hat sich noch verändert?
Die Wertschätzung. Neulich habe ich den Hund einer Dame behandelt, die seit drei Jahren mit ihm erfolglos bei Dutzenden von Tierärzten war. Keiner konnte ihr helfen. Ich habe mich in den Fall reingekniet, die Lösung gefunden, konnte das Tier heilen. Statt eines Dankes gab es eine Diskussion über die Rechnung. Dazu kommt: Tierärzte werden schlechter bezahlt als Humanmediziner.
Wie sieht das konkret aus?
Nach dem aktuellen Tarifvertrag vom Juni 2025 bekommt eine Tiermedizinische Fachangestellte im neunten und zehnten Berufsjahr 3.000 Euro im Monat. Heruntergebrochen auf eine 40-Stunden-Woche bedeutet das einen Stundenlohn von 17,44 Euro. Dafür bekommt man keine Putzfrau. Bei mir haben schon junge Leute hingeschmissen, weil bei der Flughafen-Security mehr bezahlt wird. Es braucht also viel Idealismus, um Tierarzt zu werden und eine Praxis mit einem entsprechend teuren Gerätepark aufzubauen.
Zum Tagesgeschäft gehört der Tod, also das Einschläfern eines Tieres. Wie belastend kann das sein?
Kommt jemand mit seinem Hund zu mir und möchte, dass ein MRT gemacht wird, muss ich ihn darauf hinweisen, dass es 1200 € kostet. Viele haben nicht das Geld und fragen, ob dem Hund nicht auch ohne MRT geholfen werden kann. Genau an dieser Stelle, wenn mir bedeutet wird, das Tier einzuschläfern, komme ich mit dem Tierschutzgesetz in Konflikt. Ich darf kein Tier einschläfern, wenn es eine Therapie gibt. Ich darf keine Katze mit einem Beinbruch einschläfern, nur weil die Leute sich die Behandlung nicht mehr leisten können. Alles, was ich entscheide, muss gerichtsfest sein. Da steht praktisch der Staatsanwalt neben mir. Das ist Stress pur. Wenn Sie falsch entscheiden, haben sie schlaflose Nächte.
Wen treffen diese Belastungen am härtesten?
Die jungen Tiermediziner. Deshalb halte ich sie auch für sehr gefährdet, bei diesem Druck langfristig eine Depression zu entwickeln oder Suizidgedanken. Hinzu kommt: Als Tiermediziner weiß man, wie eine Euthanasie funktioniert. Wir haben die Medikamente. Wir erleben mehrfach in der Woche, wie erleichternd es sein kann, wenn die Tiere entspannt gehen können. Auf diese Weise können aber auch Tiermediziner über Suizid mit eigenen Mitteln nachdenken.
Warum sollte es nicht Tierärzte treffen, die jahrzehntelang tätig sind?
Sie haben gelernt, Abwehrmechanismen zu entwickeln. Doch die jungen Leute kommen hochmotiviert von der Uni und wollen endlich arbeiten. Alle sind mit großem Idealismus in den Beruf gestartet und haben bereits einen ansehnlichen Weg hinter sich: Wenn Sie Tiermedizin studieren, kommen sie auf eine Woche mit 60 bis 70 Stunden. Nun wollen sie mit Feuereifer in der Praxis durchstarten und nicht als erstes auf die Uhr schauen. Sie sagen also nicht „Der Fall, den ich da gerade hineinbekommen habe, würde mich interessieren, aber ich habe jetzt Feierabend, denn heute habe ich schon Notdienst gehabt und die Stunden nicht gezählt.“ Nein, da heißt es eher: „Ich mache das jetzt! Ich bin nicht Tierarzt geworden, um nach 8 Stunden dem Bleistift aus der Hand fallen zu lassen.“ Deshalb: Man muss mit den Jahren lernen, sich abzugrenzen, um die eigene Gesundheit zu schützen.
Sprechen Sie da aus eigener Erfahrung?
Ich habe zehn Jahre lang so gut wie gar nicht auf die Uhr geguckt. Damals arbeitete ich in einer Tierklinik und es hat verdammt viel Spaß gemacht. Allerdings war es die erste Klinik mit einem Computertomografen – deshalb wurde fast jeder Autounfall mit Tieren und fast jede Katze oder jeder Hund mit einem Bandscheibenvorfall-Verdacht zu uns gebracht. Eine Menge Arbeit. Deshalb war man rund um die Uhr erreichbar.
Was gab den Ausschlag, die Situation zu ändern?
Meine beiden Kinder. Wenn ich ihnen damals versprach, Donnerstag auf dem Hamburger Dom zu gehen, wussten sie schon: Es wird nur gehen, wenn nicht ein Anruf aus der Tierklinik dazwischenkommt. Der Beruf mit seinen Notsituationen war fest in der Familie verankert. Wenn wir am Wochenende zu Freunden fuhren, geschah das oft mit zwei Autos, weil es oft vorkam, dass ich zu einem Notfall in die Klinik musste. Diese Anrufe wurden an Wochenenden zum Normalzustand. Eines Tages sagte ich mir: Ich will nicht, dass meine Kinder den zweiten oder dritten Freund oder Freundin haben, ohne dass ich es mitbekommen habe. Deshalb habe ich mich auf Akupunktur-Behandlungen konzentriert. Dort gibt es keine Notfälle.
Ihnen hat ihr Umfeld geholfen, aber dieses Glück hat nicht jeder junge Tiermediziner?
Auf jeden Fall. Gerade weil die Desillusionierung ein schleichender Prozess über Jahre ist, der mangelnde Anerkennung, Streit ums Geld und die nahezu täglich anstehende Situation innerhalb von Sekunden richtig über Leben und Tod zu entscheiden zusammenfasst. Dann stellt sich irgendwann die Frage: Wie gehe ich damit um? Wo lasse ich die Last der Gefühle aus all diesem Wissen? Wenn man dann in der Praxis ein Einzelkämpfer ist und denkt „Ich habe das Problem, die anderen nicht“, steigt die Isolation. Gerade dann, wenn es unter den Kollegen keine Möglichkeit zu einer Aussprache gibt, um diesen Stress abzubauen, ist es wichtig, dass man sich übergeordnete Hilfe sucht.
Was kann man konkret tun?
Hilfsangebote anbieten! Aus diesem Grund wurde von mehreren Tiermedizinischen Fachangestellten und Tierärztinnen die „Vethilfe“, eine Telefonseelsorge für Tierärzte gegründet, bei der medizinisches Fachpersonal seit Anfang Juni Anrufe entgegennimmt. In Planung ist auch die Idee, eine mindestens 10-köpfige Einheit für Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen zu gründen. Diese sogenannten „SBE“-Einheiten gibt es auch bei Polizei und Feuerwehr. Sie dienen dazu, bei Mitarbeitern, die an schweren Einsätzen teilgenommen haben, die Gefahr einer posttraumatischen Belastungsstörung zu verhindern. Ich unterstütze die Kollegen dabei mit meinen Kontakten als Präsidentin der Hamburger Tierschutzkammer und Mitglied im Vorstand der Berufsgenossenschaft für Gesundheut und Wohlfahrtspflege.
Sie arbeiten heute in einer Gemeinschaftspraxis zusammen mit sechs Tierärztinnen. Wie schaffen Sie es, sie immer wieder zu motivieren?
Das muss ich weniger motivieren, als mehr vorleben. Ich liebe diesen Beruf auch nach 39 Jahren noch immer über alles. Er ist unglaublich vielfältig, reicht vom Zwergfink bis zum Wal, von der alltäglichen Praxis, über die Forschung und Verwaltung, bis hin zur Meeresbiologie. Ich liebe mein Stammklientel. Ich kenne diese Menschen teilweise 30 Jahre. Mittlerweile sind jetzt ihre erwachsenen Kinder mit ihren Tieren bei mir. Ich mag das Vertrauen und die langjährige Verbundenheit. Das wiegt alles andere auf. Auch die alltäglichen Herausforderungen.
INFOKASTEN:
Für eine internationale Studie des Pharmaunternehmens Boehringer Ingelheim aus diesem Jahr wurden 1056 Tierärzten in Deutschland, den USA und Japan befragt und es stellte sich heraus, dass nur 49 Prozent der befragten Tierärzte der Ansicht sind, ihre Arbeit sei im Allgemeinen geschätzt. Weitere Ergebnisse aus älteren Veröffentlichungen deuten darauf hin, dass die psychische Belastung alarmierend hoch ist. Im Jahr 2020 kam eine Studie der FU Berlin und der Universität Leipzig (3.118 befragte Tierärzte) zu dem Schluss: 32,1 Prozent der Befragten zeigten ein erhöhtes Suizidrisiko, während dies nur bei 6,6 Prozent der Allgemeinbevölkerung gegeben ist. Mehr als ein Viertel hatte klinisch auffällige Depressivitätswerte. Sie liegen damit vier- bis sechsmal höher als in der Gesamtbevölkerung in Deutschland.
++ DISCLAIMER: Im folgenden Beitrag geht es um Suizid, Depression und Angstzustände. Wenn Sie Sorgen, Depressionen oder Suizidgedanken haben, wenden Sie sich an die Telefonseelsorge unter 0800/111 0 111. ++