Ende der „Flugscham“? Deutsche fliegen wieder häufiger

Die Zahl der Flugreisen ist zuletzt gestiegen. Foto: Adobe Stock/Chalabala Die Zahl der Flugreisen ist zuletzt gestiegen. Foto: Adobe Stock/Chalabala

Die deutschen Flughäfen verzeichnen trotz Klimakrise seit Ende der Corona-Pandemie Jahr für Jahr hohe Zuwachsraten. Immer mehr Menschen fliegen wieder, besonders jüngere – nicht selten auch heimlich.

Auf das Fliegen verzichten? Die 63-jährige Hamburger Künstlerin Elga Voss sagt, dass ihr das schwerfällt, „solange es noch Menschen gibt, die mal eben für ein Wochenende nach Paris oder gar mit dem Privatjet von Hamburg nach Sylt düsen.“ Sie frage sich, was ihr „Verzicht überhaupt bewirkt, solange andere Menschen sich keine Gedanken machen.“ Die Zahl dieser „anderen Menschen“ nimmt zu, blickt man auf die Statistiken: Die Passagierzahl an den deutschen Flughäfen ist laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2024 um 7,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahr auf insgesamt 199,5 Millionen gestiegen. Zwei Drittel der Passagiere – rund 137 Millionen – waren innereuropäisch unterwegs. 

Die Deutschen jetten wieder in den Urlaub. Die deutschen Flughäfen verzeichnen seit Ende der Corona-Pandemie Jahr für Jahr hohe Zuwachsraten. Dabei steigt die junge, als klimabewusst geltende Generation verstärkt in den Flieger – der Anteil der unter 30-jährigen Fluggäste nimmt am stärksten zu. „Wir spüren, dass die Menschen wieder mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegen“, sagt eine Sprecherin des Hamburger Flughafens. 

Die Zeit der „Flugscham“ ist für viele offenbar vorbei. Als Greta Thunberg im Jahr 2018 die ersten Klimastreiks organisierte, entstand dafür in Schweden das Wort „Flygskam“. Die Wortschöpfung legte eine internationale Medienkarriere hin, weil sie den Zwiespalt beschreibt, auf Kosten der Allgemeinheit den eigenen ökologischen Fußabdruck zu vergrößern. Laut einer McKinsey-Umfrage im Jahr 2023 trieb 45 Prozent der Bundesbürger damals diese Flugscham um. Den aktuellen Trend beschreibt wohl eine andere Wortschöpfung aus Schweden, die eine Reaktion auf die Flugscham ist: Smygflyga, sinngemäß das „Heimlichfliegen“. Der Begriff beschreibt, dass Reisende ihrem Umfeld nicht erzählen, dass sie für den Urlaub ins Flugzeug steigen.

Fliegen und Klima: Erhobener Zeigefinger führt zu Trotzreaktionen

Eine davon ist Simone Dreyer*, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Die 46-Jährige verschwieg ihrer befreundeten, sehr umweltbewussten Nachbarin einen Flug in die südportugiesische Stadt Faro. „Ich habe ihr erzählt, dass ich eine dänische Freundin besuche, ihr aber unterschlagen, dass das Treffen in Portugal stattfand.“ Keine Angst, erwischt zu werden? „Nein, ich hätte ihr dann gerne unter die Nase gerieben, dass solche Anklagen mit erhobenem Zeigefinger, getreu dem Motto ,Mein moralischer Kompass ist in Ordnung, deiner aber nicht´ bei mir eher zu einer Trotzreaktion führen“, sagt Dreyer.

Was die Deutschen sagen und wie sie handeln, klafft auseinander. Umfragen zufolge behaupten 60 Prozent der Deutschen „den Einfluss auf die Umwelt bei ihrer Reiseplanung mit“ einzubeziehen. Im Verhalten spiegelt sich das nicht – oder nicht mehr – wider. „Die Menschen“, so ein Vertreter des Deutschen Reiseverbands, „kaufen noch nicht so häufig nachhaltige Reisen“, wie es laut diverser Umfragen „eigentlich sein müsste“.

Für steigende Passagierzahlen sucht auch die Osnabrücker Psychologin Verena Kantrowitsch Erklärungen. Andere Themen, sagt sie, hätten die Angst vor den Folgen der Erderwärmung verdrängt: Der Ukraine-Krieg, der blutige Konflikt in Nahost, der gesellschaftliche Rechtsruck und die Erosion der westlichen Demokratien. Zudem führe „das Gefühl, selbst durch eine radikale Veränderung des eigenen Verhaltens eine Klimakatastrophe nicht mehr abwenden zu können, zu einer Flucht ins Private“, glaubt die 45-Jährige. Deshalb würden immer mehr Menschen etwa so denken: „Wenn ich schon global nichts ändern kann, sollte ich zumindest dafür sorgen, dass es mir gut geht oder meinen Kindern noch mal was von der Welt zeigen. Ich bin doch nicht der letzte Idiot, der sich einschränkt, während alle anderen weiter Party machen.“

„Die missionierenden Freunde, die moralisch ganz weit vorne sind, mag niemand – da gehen wir eher in eine Abwehrhaltung“, betont Psychologin Kantrowitsch. Scham bringe Menschen oft dazu, das Verhalten, für das sie sich schämen, zu verstecken. Flugscham könne zwar dazu führen, dass heimlich geflogen werde, doch aus Heimlichkeit folge selten Einsicht. Ihr Ratschlag: „Wenn man fliegt, sollte man dazu stehen, seine inneren Widersprüche Freunden offenbaren und darüber sprechen, was es für Alternativen zu Flugreisen gibt.“

„Wer sich für Bequemlichkeit, niedrige Preise und kürzere Reisedauer entscheidet, soll sich dazu bekennen“, findet auch der Soziologe und Tourismusexperte Hinrich Bernzen (52), der in Kiel arbeitet. „Wer sich fürs Fliegen schämt, muss es lassen – mit einem halbschlechten Gewissen durch die Welt zu fliegen, ist bloße Koketterie.“

„Der Verstand findet immer Gründe, warum es diesmal ohne Flieger wirklich nicht ging“, sagt Verena Kantrowitsch. Erst wenn „das Thema einmal im Gefühl angekommen ist, dann will man auch gar nicht mehr fliegen.“ So ist es der Psychologin ergangen, die noch vor wenigen Jahren einen Ratgeber darüber geschrieben hat, wie Menschen ihre Flugangst überwinden und angstfrei in den Flieger steigen können. Genau das würde sie heute nicht mehr tun, obwohl sie „richtig gerne geflogen ist“. Natürlich sei sein persönliches Flugverhalten „für das Weltklima völlig irrelevant“, räumt Hinrich Bernzen ein. Aber es fühle sich eben „richtig gut an, mit einem kleineren ökologischen Fußabdruck zu leben.“

Die Zahl der Flugreisen ist in den vergangenen Jahren wieder in die Höhe geschossen. Foto: Adobe Stock/weixx
Die Zahl der Flugreisen ist in den vergangenen Jahren wieder in die Höhe geschossen. Foto: Adobe Stock/weixx

Dänische Südsee statt Griechenland

Auch der Hamburger Hartmut Strohm fliegt „viel weniger als früher, weil es extrem umweltschädlich ist.“ Und nicht nur das. Nach langen Debatten, berichtet der passionierte Segler, habe er es geschafft, seine Crew umzustimmen, im kommenden Sommer nicht vor der griechischen Küste, sondern in der dänischen Südsee zu kreuzen. Nach anfänglichem Widerstand finde der Turn nun vor der eigenen Haustür statt. 

Die Yoga-Lehrerin Barbara Schröder räumt ein, „die Umwelt komplett aus den Augen verloren zu haben“, als sie in den vergangenen Jahren Yoga-Retreats auf Mallorca und Korfu anbot. Sie sucht für ihre nächsten Yoga-Events „nun Orte in der Nähe“. Schröder sagt, sie wolle „nicht mehr dafür verantwortlich sein, dass ein Dutzend meiner Schülerinnen einen Flug buchen müssen“.  

Den Preis für die schwindende Flugscham zahlt die Umwelt. Der Sommer 2024 war der heißeste seit Beginn der Aufzeichnungen, so der Kopernikus-Klimawandeldienst der EU. Extremwetterlagen, Dürren und Hitzewellen nehmen zu. „Jeder Flug befeuert die Klimakrise, und an deren Folgen leiden Menschen (und Tiere) auf der ganzen Welt“, heißt es von der Umweltorganisation WWF.

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